Ein Fest der Zukunft

AutorIn: Rosa Hallqvist

Es ist ein Fest, wenn ein Kind geboren wird. Die Eltern und die Menschen in der Umgebung empfangen es voller Freude und haben jetzt die Aufgabe, das Wunderwerk weiterzuführen, das bereits durch die Tatsache, dass das Kind geboren werden konnte vollbracht ist. Jedes Kind hat eine besondere Ausstrahlung, die im ganzen Raum bemerkbar ist, in dem es liegt, wenn es gerade geboren wurde. Man kann erleben, wie die Zukunft des Kindes, sein Lebensimpuls und alle Kräfte, die es gebildet haben, noch ganz nah in seiner Umgebung sind. Außerdem liegt das Geheimnis der Herkunft des Kindes in der Luft. Auch Menschen, die sich nicht als spirituell bezeichnen, fragen sich in solchen Augenblicken: Wo kommt dieses Kind her? 

Worüber freuen wir uns, wenn ein Kind geboren wird?
Wir freuen uns über das Neue, das es mitbringt, über das, was noch unbekannt in ihm verborgen liegt, über seine Persönlichkeit, die wir kennenlernen dürfen, und über das, was diese eines Tages in der Welt tun wird. Wir freuen uns über die Zukunft, die in dem Kind liegt.

Es gibt, der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners zu Folge, einen Augenblick, in dem die konkrete Persönlichkeit den Impuls fasst, auf die Welt zu kommen, und sich dieser Wille in der Liebe des Paares äußert, zu dem sie kommen will. Sie hat sich entschieden, eine Aufgabe auf der Erde zu ergreifen. Diese Entscheidung ist zwar in der Vergangenheit gefällt worden, ist aber etwas, das in der Zukunft wurzelt. Die Ursache, warum ein Kind geboren wird, liegt in der Zukunft, in den Zielen, die diese Persönlichkeit auf der Erde hat. 

Der Geburt ist eine lange Schwangerschaft vorangegangen, in der der kindliche Leib viele Entwicklungsphasen durchlaufen musste, die voller tiefer Weisheit sind und deren Sinn schwer zu verstehen ist. Am Priesterseminar in Stuttgart, wurde die Embryonalentwicklung in einem Kurs behandelt, in dem wir die Schritte, die jeder Mensch durchläuft, um schließlich die Form des menschlichen Leibes anzunehmen, mit Ton nachformen konnten. Es hat mich erstaunt zu sehen, wie viele Formen der Embryo durchlebt, die zunächst gar nicht an die Form erinnern, die der menschliche Leib schließlich annehmen wird. Besonders interessant ist, dass die Schritte der Entwicklung jedes einzelnen Menschen mit den großen Zusammenhängen vergleichbar sind, die in der Genesis bzw. in der Geheimwissenschaft Rudolf Steiners in Bezug auf die Entstehung der Erde beschrieben werden. Man kann die sieben Tage der Schöpfung in den Grundformen wiederfinden, die sich ganz am Anfang der Entstehung des Kindes zeigen. Das werdende Kind ist wie ein kleiner Kosmos, der sich bildet. 

In gemeinschaftlichen Gesprächen können wir sehen, dass es im menschlichen Miteinander, im kreativen Gestalten Prozesse gibt, die dem Geburtsprozess verwandt sind. 

Wenn sich eine Gemeinschaft zusammensetzt und über ein bestimmtes Thema spricht, dann kann man verschiedene Phänomene beobachten. Ich habe das zum Beispiel bei der Vorbereitung der IM-Puls-Tagung der Christengemeinschaft erlebt. Das Thema der Tagung war »Was ist meine Lebensaufgabe?« In dieser Vorbereitung wurde besonders Wert daraufgelegt, die Tagung möglichst aus dem Ideal heraus zu gestalten. Diese Vorgehensweise führte dazu, dass die Tagung allen Vorbereitenden wirklich zutiefst am Herzen lag und so auch besonders gut umgesetzt werden konnte. 

In diesem Prozess habe ich Folgendes beobachtet: Die Entscheidung für ein konkretes Thema ist schon gefallen, und die Gemeinschaft wendet ihr Bewusstsein diesem Thema zu, um aus ihm heraus etwas Konkretes zu gestalten. Dabei kann eine besondere Stimmung entstehen, weil sich alle Menschen innerlich öffnen und noch keine festen Vorstellungen haben. Ein solches Gespräch beginnt vielleicht mit etwas Ratlosigkeit und Stille, diese Stille kann aber wie ein Vakuum wirken, das die Gedanken anzieht. Dann wird der erste Gedanke ausgesprochen. Dieser führt wieder zu anderen Gedanken, und den einzelnen Menschen kommen innerhalb des Gespräches unverhofft ganz neue und andere Ideen. Da gibt es geistig sehr fruchtbare Momente, und manchmal ist es tatsächlich so wie mit einem Kind, das auf die Erde kommt. Besonders deutlich war das z.B., als im Gespräch die Idee ausgesprochen wurde, eine neue Form der Universität zu gründen; freier und anders, als es das bis jetzt gibt. Diese Idee stand sogleich allen Zuhörenden ganz klar vor Augen. Alle fingen an, diese Idee weiter zu beschreiben. Es war so als sei sie da. Sie war wie eine Tatsache, die den Raum betreten hatte. Ich hatte den Eindruck, dass sie beschrieben werden wollte und so das erste Mal in Worten, als Bild, den Menschen sichtbar werden wollte. Nach diesem Gespräch ist mir diese Idee der neuen Form der Universität immer wieder begegnet, durch andere Menschen, die ähnliche Gedanken hatten und diese teilweise auch schon umgesetzt haben. Es scheint eine Idee zu sein, die irgendwann tatsächlich ganz Form annehmen wird, denn viele Menschen tragen sie in den Gedanken.
Soweit ich solche Prozesse verstehen kann, handelt es sich dabei um ein kompliziertes Zusammenwirken einerseits der geistigen Welt, deren Ideen für die Menschen eine greifbare Tatsache sind, und andererseits der menschlichen Kreativität, die auf ihre individuelle Weise die Ideen in Form bringt, sie beschreibt und schließlich auf die Erde bringt. 

Ideen scheinen manchmal wirklich zu Menschen kommen zu wollen, damit die Menschen sie kennenlernen und vielleicht eines Tages konkret auf die Erde bringen, wie ein Kind, das zu den Eltern kommt, um auf der Erde geboren zu werden. Ein Geburtsprozess, der mit wachem Bewusstsein durchgeführt wird. Genau so nehmen sich ja auch einige geschichtliche Fälle aus, in denen mehreren Menschen zur gleichen Zeit, dieselbe Idee gekommen ist: z.B. Leibniz und Newton, die sehr zeitnah die bahnbrechende Erfindung der Differentialrechnung machten, sodass man vermuten kann, dass diese Idee an der Zeit war bzw. in der Luft lag. 

Es lohnt sich, in Gesprächen dafür aufmerksam zu sein, woher die Gedanken kommen, wohin sie einen führen und welche Gedanken einem öfter begegnen oder vielleicht sogar immer begleiten. 

Schauen wir nun noch auf »Weihnachten«: Da wird die Geburt des Christkindes gefeiert, und die Freude ist groß, denn dieses Kind lebt in den Seelen vieler Christen auf besondere Weise, durch die Weihnachtsfeste, die idealerweise den Kindern ermöglicht haben, ein tiefes inneres Bild von dieser besonderen Geburt in sich zu tragen. Deshalb ist Weihnachten ein Geburtstag, der alle Menschen, die diese Bilder in sich tragen, berührt. 

Wir freuen uns an Weihnachten über das Kind, dessen Leben uns, durch die Evangelien, schon bekannt ist. Es ist deshalb auch wichtig, das Leben des Jesus Christus als geschichtliches Ereignis zu betrachten, weil wir bei ihm wissen, dass er in seinem Leben die Aufgabe hatte, den Tod zu überwinden. Die Menschen haben individuell verschiedene Standpunkte in Bezug auf das Verständnis der Biografie des Jesus Christus. Manche Menschen haben eine konkrete Vorstellung davon, dass sein Leben für die ganze Menschheit eine Bedeutung hat, und andere haben vielleicht nur eine stille Ahnung davon. Das kann ein Anlass zur Freude sein, aber auch ein Anlass, sich selbst zu fragen: Habe ich verstanden, was das Leben Jesu Christi als geschichtliche Tatsache für eine Bedeutung hat? 

Es genügt nicht, dass die Jahresfeste nur als Wiederholung dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, gesehen werden, sondern den Festen sollte, denke ich, die Aufgabe zugedacht sein, durch äußere Erlebnisse und Bilder für die Seele, innere Prozesse anzuregen. Die Aufgabe des Christentums ist noch nicht abgeschlossen, sondern vieles liegt noch in der Zukunft, an der alle Menschen beteiligt sind. Weihnachten hat, so betrachtet, die Aufgabe, den einzelnen Menschen anzuregen, den Christus in der eigenen Seele zur Geburt zu bringen. 

Die Freude an Weihnachten ist, neben der Freude über das, was wir schon über das Leben des Jesus Christus wissen, auch ganz ähnlich wie die Freude, die wir empfinden, wenn ein Kind geboren wird. Wir freuen uns über die Zukunft, die in der Luft liegt und die unsere Zukunft ist: die nämlich, in der jeder einzelne Mensch seinen Geist ganz auf die Erde gebracht haben wird. An Weihnachten wird gefeiert, damit die Menschen sich ins Bewusstsein rufen, dass sie selbst die Zukunft haben, ihren Geist auf der Erde zur Geburt zu bringen. In der Betrachtung des Christkindes als Bild kann man versuchen, die Zukunft der ganzen Menschheit verkörpert zu sehen. So mag man sich dann fragen: Wird Jesus Christus vielleicht jedes Jahr ein bisschen mehr in die Menschheit hineingeboren?