Engel

AutorIn: Sarah Knausenberger

Gibt es Engel, Mama?«, fragten mich meine Zwillinge eines Abends, als ich gerade meine Gute-Nacht-Küsse verteilt hatte. »Jetzt sag mal ehrlich.«

Stille im Raum. Zwei eindringliche Augenpaare waren auf mich gerichtet.

Ich holte tief Luft. Es war schon spät, und ich hatte mich auf einen wohlverdienten Feierabend gefreut, aber es gibt Fragen, die können nicht aufgeschoben werden.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlicherweise. »Aber einmal …«

 

Und dann erzählte ich ihnen von jenem Heiligabend, als ich sechs Jahre alt war. Es war der Winter, bevor ich in die Schule kam. Da waren wir, meine Schwester und ich, mit unseren Nachbarn Ingeborg und Peter in den Wald gegangen, um die Tiere zu füttern, unsere Eltern wollten zuhause noch etwas vorbereiten. Wir hatten einen Korb mit Heu, Kastanien und altem Brot dabei, für die Wildschweine und die Rehe, damit die auch ein leckeres Weihnachtsessen haben würden. Wir liefen an den letzten Häusern des Dorfes vorbei und marschierten zunächst auf dem uns bekannten Weg in den Wald. Dann schlug meine Schwester vor, etwas vom Weg abzugehen, da die Tiere doch tiefer im Gehölz lebten. Wir stapften also querfeldein durch das modrige Laub. Es war schon dämmrig, aber Ingeborg hatte eine kleine Laterne dabei. Als die Bäume dichter wurden, verteilten wir unsere »Gaben« unter einer Tanne, standen dann noch kurz im Dunkel und lauschten in den Wald hinein. Ingeborg summte »Macht hoch die Tür ...«, aber wir waren zu schüchtern, um mitzusingen, und so verklang ihre Stimme dünn in der Nachtluft. Hier und da knackte es, in der Ferne plätscherte der Fluss. Ich schob meine Hand in die große Hand von Peter. »Entlang des Flusses ist auch ein schöner Weg, den könnten wir zurück nehmen«, schlug er vor. Wir tasteten uns Richtung Fluss den Hang hinab. An einer Stelle lichtete sich der Wald, man konnte die Sterne sehen. Der Boden wurde jetzt sumpfig, und ich hörte noch, wie Peter »Achtung!« sagte. Dann blieben wir alle wie angewurzelt stehen. Vor uns kniete jemand auf dem Boden, nein, er musste eingesunken sein, bis zu den Knien steckte er im Schlamm! Peter und Ingeborg legten lange Stöcke um ihn herum, stellten sich darauf und zogen ihn heraus. Dann stand er vor uns. Ein alter Mann mit Baskenmütze. Er sagte kein Wort. Aber um ihn herum war es ganz hell. Er hatte eine kleine Axt in der Hand, hatte sich wohl ein Bäumchen schlagen wollen. Hätten wir ihn nicht gefunden, er wäre mit Sicherheit erfroren.

Wir nahmen ihn in unsere Mitte und führten ihn zurück ins Dorf, Ingeborg brachte ihn nach Hause. Peter lieferte uns bei den Eltern ab. Als wir von unserem Abenteuer berichteten, wurde es vielleicht ein bisschen ausgeschmückt. Ich erwähnte das Licht. Meine Schwester hatte Flügel gesehen. Und jedes Mal, wenn wir die Geschichte erzählten, kam ein weiteres Detail hinzu.

 

Im neuen Jahr trafen wir den Mann einmal beim Einkaufen. Er stand an der Kasse, meine Schwester stieß mich mit dem Ellbogen an: »Da ist er!« »Wer?« »Na der Heilige!«. Wir beobachteten, wie er seinen Einkauf in einer Tüte verstaute. Brot, Wurst – und ja, sogar Klopapier. Dass er so etwas Profanes brauchte, verwunderte mich. Denn mir kam es immer noch so vor, als ob ihn eine Art Glanz umgab. Als er mit seiner Tüte davon stapfte, standen wir vor dem Laden und sahen ihm ehrfürchtig nach, sein Kopf mit der Baskenmütze wippte im Gewusel der Fußgängerzone auf und ab. Ich dachte: wenn wir ihn nicht gefunden hätten, läge er jetzt unter der Erde und sein Körper wäre schon am Verfaulen. Mich schauderte. Und dann dachte ich: Er verdankt sein Leben einem Engel. Wer sonst hatte uns zu ihm geführt? Meine Schwester hatte recht. Er war wohl so etwas wie ein Heiliger.

 

Kurz war ich verunsichert, als ich mit meiner Erzählung endete. War das jetzt glaubhaft? Dass es kein Zufall gewesen sein konnte, mitten im dunklen Wald auf einen Mann in Not zu stoßen, das war mir klarer als je zuvor. Aber ob es wirklich ein Engel war, der damals hinter ihm stand, und ob er gelbe Flügel hatte oder blaue, das verschleierten die mehr als 30 Jahre, die inzwischen vergangen waren. Ich hätte keine Bedenken haben müssen. Für meine Kinder war die Anekdote wie ein Stichwort, auf das sie gewartet hatten. Es sprudelte nur so aus ihnen heraus: Momente, in denen sie einen hellen Schein gesehen hatten. Neben ihrem Bett, beim Aufwachen. Am Sarg der verstorbenen Lehrerin, beim Singen für die kranke Frau von nebenan.

 

Wir waren uns einig: Engel sind oft unscheinbar, und erst im Rückblick treten sie hervor und beginnen zu leuchten.