Die Blinde und der Lahme

AutorIn: Bastiaan Baan

Ich selbst bin einer dieser Pechvögel, aus dem ein Glückspilz wurde. Hier ist meine Geschichte:

Während einer Wanderung, die ich allein hoch in den Bergen unternommen hatte, erlitt ich eine Knieverletzung, die mich noch Monate danach fesselte. Zwar konnte ich anfänglich noch mit Mühe gehen, aber nichts half zu einer Genesung – im Gegenteil: Ich landete im Spital, auf Krücken, im Rollstuhl und schließlich mit meinem Bein im Gips. Kein Arzt wusste Bescheid. Ich konnte mir am Ende nicht mehr vorstellen, wie ich je als zelebrierender Priester wieder vor dem Altar stehen würde. Ich war 37 Jahre alt und realisierte, dass ich mitten im berüchtigten zweiten Mondknoten meiner Biografie stand. (Nein, ich stand nicht: ich lag!)

 

In dieser Zeit begegnete ich einer alten Frau, die mir anbot, eine lange Geschichte zu erzählen. Obwohl sie fast ganz blind war, kannte sie die Geschichte Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz1 fast auswendig. Sie kam an sieben Tagen, begleitet von einer Freundin, die ihr den Weg zeigte. Mehr als sieben Stunden saßen wir zusammen, die Blinde und der Lahme – und ich hörte zum ersten Mal in meinem Leben die märchenhafte Geschichte von Christian Rosenkreutz. Ich weinte und weinte – nicht vor Schmerz, sondern vor Glück, weil ich mich zum ersten Mal in meinem Leben ganz zu Hause fühlte. Ich verstand auf einmal, warum ich mich als Jugendlicher jahrelang mit Chemie beschäftigt hatte, warum ich als Elftklässler fasziniert war von der Alchemie, ohne überhaupt zu verstehen was sie bedeutete. Ich hatte die geistige Strömung gefunden, mit der ich seitdem verbunden bin.

Als diese Frau auf dem Sterbebett lag, gab sie mir den Auftrag: »Du sollst Christian Rosenkreutz treu bleiben für den Rest deines Lebens.« Das versuche ich seitdem.

 

War es die Erzählung von Christian Rosenkreutz, die mich wieder auf die Beine brachte? Ich weiß es nicht – aber irgendwie erholte ich mich wieder und konnte gehen. Was ich in diesem Knotenpunkt meines Lebens empfing, war ein Geschenk, ein höchstes Glück, versteckt in einem Päckchen von Unglück.

 

---

1  Johann Valentin ­Andreae: Die chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz anno 1459, Berlin 2017