Wer schickt Schicksal?

AutorIn: Ilse Wellershoff-Schuur

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn …« So reagiert der zeitlose Hiob in den unbestimmbaren Tagen der Hebräischen Bibel auf die Prüfungen, das Un-Heil, mit dem der Satan (mit der Erlaubnis Gottes!) sein Wohlergehen auf Erden beendet. Sein irdischer Besitz, seine Zukunft versprechenden Kinder, seine Gesundheit — alles wird ihm genommen, weil der Widersacher beweisen möchte, dass er im Unglück von der Verbundenheit mit Gott abfallen wird. Hat er gesündigt und wird deshalb gestraft? Oder wird er geprüft, gerade weil er so untadelig und gottverbunden gelebt hat?

Ist mein Unglück eine Folge meiner Taten – in diesem oder einem anderen Leben? Habe ich es mir gewissermaßen selbst zugefügt? Oder werde ich herausgefordert von höheren Mächten, vielleicht um noch einmal anders mit den Gaben meines Lebens umgehen zu können? Oder ist das alles mehr oder weniger willkürlich und will mir gar nichts sagen, außer vielleicht, dass ich eben lernen sollte, kreativ mit Rückschlägen umzugehen, damit mein Leben sich einigermaßen erträglich gestaltet? Diese Fragen treiben uns um, egal ob es dabei um individuelle Herausforderungen oder um die großen Disruptionen unserer Zeit geht.

In fernen vorchristlichen Zeiten spricht Gott sich sehr direkt im Leben der Menschen aus, die im Laufe der Entwicklung als immer selbständigere Wesen auf Erden leben sollen. Nur sehr langsam entlässt er sie in die Freiheit. Ihr Handeln ist noch nicht wirklich selbstbestimmt, selbst wo sich die Seelen schon einmal versuchsweise von den göttlichen Wegen abwenden. David, der die Batseba mit moralisch verwerflichen Methoden erobert, erfährt den Tod des ersten gemeinsamen Sohnes als unmittelbare und deshalb folgerichtig von Gott verursachte Konsequenz seines eigenen Tuns. Aber nicht nur das Leben des/der Einzelnen, sondern auch das Gemeinschaftsschicksal dient in diesen Tagen dem Zweck der Verselbständigung des Gottesvolkes. Jeder Abfall von Gott bringt die Menschen dem näher, was sie an Eigenständigkeit brauchen werden, um einen Jesus von Nazareth hervorzubringen, der einst dem Christus die Inkarnation auf Erden ermöglichen wird. Schicksal ist von Gott gesandt, und der Wille des/der Einzelnen wird empfunden als aus höheren Sphären kommend — zum Fortgang und Wohle des Ganzen. Es macht keinen Sinn, in dieser Zeit von »Zufällen« zu sprechen, alles geht noch nach Gottes Plan.

Das ändert sich schon mit dem Anbruch der griechisch-römischen Zeit, also lange vor der Zeitenwende. Das Einzelschicksal gewinnt im Verhältnis zu den Völkerschicksalen an Bedeutung, und der Lebenswandel des Menschen hängt immer mehr von individuellen Entscheidungen ab. Mit der Kodifizierung der mosaischen Gesetze, der Verschriftlichung der uralten Weisheitsüberlieferungen und der Verrechtlichung des Lebens in den Gemeinschaften entsteht ein neues Schicksalsgefüge, in dem die Gruppe im Mittelpunkt steht und der Einzelne lernt, sich ihr einzufügen. Es ist noch nicht die Moral, die innere Freiheit, die von uns als Einzelnen gefordert ist, sondern gerade indem wir individuellere Entscheidungen treffen können, stehen wir in der Verantwortung gegenüber unserer Gemeinschaft, die die eigentliche Trägerin einer wichtigen Aufgabe im Menschenschicksal ist. In der Zeit der Könige (beschrieben in der Bibel in den gleichnamigen Büchern und den Büchern der Chronik sowie den meisten Prophetenbüchern) leben die Verantwortungsträger der Judäer und Israeliten so, wie es für den Fortgang des Volksschicksals förderlich ist — oder eben auch hinderlich. So werden sie gesegnet oder dahingerafft — und das betrifft nicht sie allein, sondern ihre jeweiligen Stämme. Die geistigen Mächte geben ihnen Wegweisungen bis ins Irdische hinein. Werden diese befolgt, ergeht es ihnen wohl. Weichen die Verantwortlichen von ihnen ab, wird abseits vom geraden Weg meist eine Möglichkeit zur Läuterung veranlasst. Auch die Makkabäer handeln noch aus dem Bewusstsein der Verantwortung für das ganze Volk und verhelfen so der Tempelkultur dazu, dass sie bis in die Zeiten des Christus Jesus hinein überhaupt eine irdische Tatsache bleiben kann.

Das ist die grundsätzliche Verfassung des Menschen in der Zeit des Mysteriums von Golgatha — und noch viele Jahre darüber hinaus. Es ist das Zeitalter der Verstandes- und Gemütsseele, das noch bis ins Mittelalter andauern soll. Die Gruppen sind Träger des Willens, und die Entwicklung des Menschen hängt davon ab, dass er mit deren Willen wirken kann. Die Gruppen selbst werden dabei von ihren Volksengeln und den jeweils dominierenden Zeitgeistern inspiriert. Freiheit besteht darin, sich mit dem Gruppenschicksal ins Einvernehmen zu setzen. Die Abweichung davon wird von den Engeln korrigiert — auch wenn es Einzelfälle von echter Eigenständigkeit gibt, die sich im Nachhinein wie anachronistisch darstellen, aus der Zeit gefallen und ihrer Zeit vorauseilend. Da lebt dann schon ein Bewusstsein, das eigentlich noch gar nicht »dran« ist und deshalb vor dem Lauf des Schicksals zunächst nicht bestehen kann. Es gäbe da schöne Geschichten zu erzählen von Heiligen und Hexen des frühen Mittelalters, von Abaelard und Heloïse, von der Sufi-Mystikerin Rabia al-Adawiyya und anderen …

Mit dem Beginn der Neuzeit entsteht allmählich unser heutiges Bewusstsein, das sich dadurch auszeichnet, dass wir immer mehr verstehen können, wie viele verschiedene Willensströme das Schicksal ausmachen, wie vielfältig wir verbunden sind, wie wenig wir eigentlich in unserem irdischen Bewusstsein davon schon erfassen können, was unsere Welt ausmacht. Der Mensch der Verstandesseele (den wir alle noch in uns tragen!), meint ganz genau zu wissen, wie die Dinge zusammenhängen. Der Mensch der Bewusstseinsseele, weiß, dass er nur einen Bruchteil der Wahrheit begreifen kann, dass alles komplexer ist, als es aussieht, sich ständig weiterentwickelt, viele Seiten hat und vor allem, dass alles mit allem zusammenhängt, insbesondere in der Folge wiederholter Erdenleben, die jetzt wieder mit einbezogen werden können und müssen. Wir sind Teil eines größeren Ganzen und für dieses auch mitverantwortlich. Unser Zeitgeist Michael ist ein schweigsamer Geist, der in dieser Phase der Menschheitsentwicklung wenig direkten Einfluss nehmen will auf unsere Taten, der vielmehr mit den Folgen unseres Handelns lebt. Er formt sie um in Erdenleben in weitestem Sinne. Das ist es, was uns im Leben begegnet.

Im individuellen Schicksal begegnet uns also nicht mehr nur das, was wir selbst in mehr oder weniger übersichtlicher Weise verursacht haben. Wir rauchen Kette und bekommen Lungenkrebs — oder eben auch nicht. Wir fahren zu schnell und haben einen Autounfall — bei dem aber eventuell ein anderer mehr zu Schaden kommt als wir. Wir kaufen ein Produkt, das nachhaltig ist, und die Erde wird gerettet? Wir tun, was »dem Herrn missfällt« — und wir werden bestraft? Mitnichten, das war einmal. Aber wir beginnen einzusehen, dass unsere Taten Folgen haben, ausnahmslos, wenn auch für uns vielleicht nicht spürbar. Jemand wird die Rechnung zahlen müssen. Anderswo. Später. Irgendwie. Vieles tun wir ganz unbewusst — aber es wird eben getan, und das hat Folgen. Je bewusster wir das erleben, desto unbequemer wird es. Wir müssen nicht nur lernen, mit den Widersprüchlichkeiten unseres Verhaltens zu leben, sie auszuhalten. Wir dürfen auch langsam damit beginnen, so auf die Sprache des Schicksals zu hören, dass wir bemerken, was der Zeitgeist uns durch das »Leben mit den Folgen« sagen will. Im Kleinen wie im Großen.

Was macht das mit unserer Schicksalsbereitschaft? Das Leben wäre ja so viel einfacher, wenn wir nicht selbst beteiligt sein müssten an all dem Durcheinander, das uns in den Disruptionen unserer Zeit begegnet. Wenn wir uns dadurch retten könnten, dass wir gewissermaßen den »Sündenbock in die Wüste schicken« könnten! Wenn es die anderen, die Bösen, die Politiker, die Reichen, die Mächtigen, die Wirtschaft, die Wissenschaftler, irgendeine verschworene Elite wäre, die uns das alles eingebrockt hätte — oder besser noch: die uns das alles nur einredet, obwohl es das gar nicht gibt, den Klimawandel, die Pandemie, Krisen aller Art, die unser Handeln herausfordern. Wenn das gar nicht existiert oder »überbewertet wird», dann bin ich scheinbar gerettet! Aber ich trage nicht mehr mit am Schicksal der Welt …

Schicksalsbereitschaft in unserem Zeitalter erfordert etwas anderes: dass wir der Tatsache in die Augen schauen, dass wir selbst als Glieder eines großen Ganzen jeden Tag die Krisen mitverursachen, die uns als ganze Menschheit treffen, oft andere mehr als uns selbst, und die sich nur lösen können, wenn sie gemeinsam getragen werden. Der Verstandesseelen-Mensch in uns kommt da noch nicht ganz mit und möchte einfachere Lösungen für die Rätsel unserer Zeit.

Die Wirklichkeit kann mit zunehmender Freiheit ehrlicher und damit komplexer erlebt werden. Sie braucht ein Verantwortungsgefühl, das es aushält, dass nicht jede Gefahr mich selbst betreffen oder unmittelbar sichtbar werden muss, damit ich sie aus Rücksicht auf den Gesamtorganismus Erde und Mensch ernst nehme. Diese »Abstraktion« (die eigentlich keine ist, da sie die — unsichtbare — Realität sogar schonungsloser anschaut als die bequemere, »dem schlichten Herzen nähere«, vereinfachte Weltsicht der Verstandesseele) ist eine Aufgabe, die nur in Angriff zu nehmen ist, wenn wir nicht mehr träumend so bleiben wollen, wie uns die Vergangenheit gestaltet hat, sondern unseren Entwicklungsweg selbst in die Hand nehmen, indem wir unsere Gedanken bewusst dem Göttlichen nähern, unseren Willen aus Zukunftssphären empfangen und den Frieden in unserem Gefühlsleben dadurch hegen können, dass wir empfinden: Der wirkliche Friede mit dem Schicksal kommt aus der Opferkraft des Christus in uns, die bereit ist, die Last der Welt mitzutragen — in Freiheit, die Verantwortung bedingt.