»Wo sind wir eigentlich …?« – Vom Plan zum Zufall

AutorIn: Roswitha von dem Borne

Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund des Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt zu werden.«1 – Goethes Worte vom »Gewebe der Welt« lassen aufscheinen, was in jeder Biographie zutage tritt. Jeder Mensch hat täglich Notwendiges zu erledigen. Ein zufällig auftretendes Ereignis, ob erfreulich oder problematisch, kann den Alltag dann leicht aus dem gewohnten Rhythmus bringen.

Interessant ist in dieser Hinsicht der Blick auf eine Arbeitswelt, in der Plan und Zufälligkeit den täglichen Ablauf bestimmen: die Luftfahrt. Nur ein kleiner Bereich der enormen logistischen Leistung einer Fluggesellschaft mit der Organisation der täglichen Flüge in alle Welt sei hier näher betrachtet: die Erstellung der Flugpläne und die Zusammenstellung einer Besatzung, die sich nach der Flugzeuggröße richtet, wie mir ein Flugkapitän erläutert. Immer aber sind es ein Kapitän, ein Copilot, ein Purser (Kabinenchef) und dann je nach Größe des Flugzeugs zwischen 2 und 20 Flugbegleiter. Ist es eine große Fluggesellschaft, gibt es viele tausend Mitarbeiter des fliegenden Personals. Nehmen wir einen Kurzstrecken-Umlauf innerhalb Europas:

1. Tag: München – Lissabon –

München – Hamburg

2. Tag: Hamburg – München –

Kopenhagen – München – Berlin

3. Tag: Berlin – München – Athen

4. Tag: Athen – München – Palermo –

München – Rom

5. Tag: Rom – München – Athen – München

Bedarf an Besatzung: 2 im Cockpit, 1 Purser bzw. Purserette, 3 Flugbegleiter.

Für jeden Dienstgrad gibt es eine eigene Planungsabteilung. Diese sechs Menschen werden nun von ihren jeweiligen Planern auf diesen Umlauf gesetzt.

Das Ergebnis ist eine gleichsam zufällig zusammengestellte Crew, die sich am ersten Tag zur Vorbereitung der Flüge trifft. Meistens kennen sie einander bis zu diesem Zeitpunkt nicht. In dieser Konstellation fliegen sie nun gemeinsam fünf Tage lang. Die Crew ist perfekt aufeinander eingespielt, jeder Handgriff sitzt. Ermöglicht wird dies durch die Routine im Alltag und die Standardisierung der Abläufe für alle Besatzungsmitglieder. Dazu kommt der persönliche Einsatz, die Begrüßung der Gäste, die menschliche Zuwendung bei der Betreuung von Kindern und hilfebedürftigen Menschen und allgemein während des Fluges. An den Zwischenstopps erfolgt die Überwachung der Beladung, Catering, Reinigung der Kabine, bevor der nächste Flug mit neuen Passagieren startet. Am Ende eines Arbeitstages dann gemeinsamer Transport in ein Hotel an den Übernachtungsorten. Am letzten Tag, nach Rückkehr zur Heimatbasis, werden sie sich voneinander verabschieden und nie wieder (!) in dieser Zusammenstellung fliegen. Vielleicht einzelne ja, aber genauso wie hier: niemals.

Aus dem Plan entsteht der Zufall – oder ist der Zufall der Plan?

Diese Schilderung hat mich fasziniert, vor allem aber auch Fragen geweckt, weil nicht unbedingt jeder Flug reibungslos verläuft und zuweilen unerwartete Probleme auftauchen, ob nun technischer oder menschlicher Art, die die Besatzung herausfordern. Von einer solchen Begebenheit hat mir der Flugkapitän erzählt:

»Die Crew hatte sich für eine 5-Tagestour kennengelernt. Was als ein Routineflug begann, wurde schon am ersten Tag zu einem außergewöhnlichen Ereignis. Wir waren bereits München – Hamburg und zurück geflogen, jetzt sollte es noch nach Ankara gehen, dort dann ins Hotel. Sommerferien, ein Flug mit 200 Passagieren, ausgebucht. Viele Familien mit Kindern, ältere Menschen auf dem Weg in die Heimat, aber auch Geschäftsleute, die meisten der deutschen Sprache nicht mächtig. Nach 45 Minuten Routineflug, gerade die Reiseflughöhe erreicht, war im Cockpit eine gewisse Ruhe eingekehrt. Zwei Stunden ruhiger Flug lagen noch vor uns, Wetter als gut vorhergesagt. Links aus dem Fenster die Stadt Budapest zu sehen. Auch in der Kabine Routine, die ersten Getränke waren verteilt, das Mittagessen in Vorbereitung.

Der Co-Pilot macht gerade eine Passagieransage, als von hinten der Anruf einer Kollegin kommt: ›Ansage sofort unterbrechen, wir brauchen dringend einen Arzt!‹ Ich gebe dem Co ein Zeichen, er unterbricht die Ansage, und die Kolleginnen hinten rufen einen Arzt aus. Sekunden später kommt die Purserette ins Cockpit und sagt nur: ›Ich glaube, der ist schon tot.‹ Kein Arzt an Bord.

Wir, der Co und ich schauen uns an, sind im ersten Moment wie erstarrt und dann hellwach. Die Kolleginnen hatten sofort mit Wiederbelebungsversuchen begonnen. Erste Diagnose: vermutlich Herzinfarkt.

Binnen Sekunden die Entscheidung: umgehende Landung. Budapest links, gut zu sehen. Wir informieren die Flugsicherung, erklären ›medizinische Luftnotlage‹, beginnen sofort mit dem Sinkflug und biegen mit einer steilen Kurve ab Richtung Budapest. Ich mache eine Ansage an die Passagiere, der Co kümmert sich um die Flugdurchführung. Derweil bringen drei der Kabinenkolleginnen mit Hilfe von Passagieren den Mann zur nächsten Türe, wo es mehr Platz gibt, um ihn auf Decken auf den Boden zu legen. Die Purserette verstaut alle Servicewagen in den Staufächern und gibt Anweisungen an die Gäste, bereits ausgeteilte Tabletts festzuhalten bzw. unter den Sitz zu stellen.

Im Cockpit bereiten wir die Landung vor, benutzen eine für diese Fälle vorgesehene Notfallcheckliste. Die Flugsicherung ist sehr hilfsbereit, schiebt jeden anderen Verkehr aus dem Weg und in tatsächlich weniger als 15 Minuten nach dem ersten Anruf aus der Kabine sind wir bereits im Endanflug. Zwischendurch mache ich immer wieder sachliche Ansagen an die Gäste und dass wir in wenigen Minuten in Budapest landen werden. Während der Landung müssen die Kolleginnen angeschnallt auf ihren Plätzen an den ihnen zugewiesenen Türen sitzen. Nach dem Aufsetzen kümmert sich die Kollegin an der Türe 2 wieder mit Hilfe von Passagieren um den Patienten. Zwei Minuten später sind wir an der Parkposition, ich bitte die Gäste eindringlich, sitzen zu bleiben. Ein Notarzt stürmt die schnell angestellte Treppe herauf, er übernimmt die Wiederbelebungsversuche.

Wir sind gelandet. Bis hierher hat die Crew perfekt agiert, gehandelt, was getan werden musste. Jetzt beginnen die einzelnen Crewmitglieder zu reagieren.

Ich gehe in die Kabine, der Co übernimmt das Cockpit. Vorne unsere jüngste Kollegin, 19 Jahre jung, ihr erster Flug nach der Ausbildung. Sie hatte sich intensiv um den Patienten gekümmert. Sie fragt mich mit großen Augen: ›Wo sind wir eigentlich …?‹ Ich sage: ›In Budapest.‹ Sie hatte meine Ansagen überhaupt nicht wahrgenommen. Die Gäste sitzen in stummem Schweigen da. Die Blicke scheinen zu sagen: Der Kapitän, jetzt wird alles gut.

Von wegen, denke ich, ich bin auch nur ein Mensch.

Ich komme zur Tür 2. Dort liegt der Mann noch. Es ist eindeutig: Es ist zu spät. Neben mir meine Purserette, schweigend schauen wir uns an. Ein Sanitätswagen hat an einer der Türen angedockt. Der Gast wird hinausgetragen, im Wagen wird offiziell der Tod festgestellt: Herzinfarkt. Seine Ehefrau verharrt einen Moment vor uns, Tränen in den Augen, spricht nur türkisch, dann verabschiedet sie sich eindringlich und dankbar von uns beiden.

Mein erster Gedanke: Wir haben es nicht geschafft. Ich gehe ganz nach hinten zu den beiden Kolleginnen, die sich permanent um die Wiederbelebung bemüht hatten. Zitternd stehen sie da, sich fest im Arm haltend. Wir reden miteinander, danach geht es besser. Dann die Frage: fliegen wir weiter? Die Firma hatte uns freigestellt, in Budapest auszusteigen. Ich spreche mit jeder Kollegin einzeln, und wir fassen gemeinsam den Entschluss: wir fliegen weiter. Wir halten zusammen, wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Unsere Überlegungen: 198 Gäste wären hier für Stunden, wenn nicht für einen ganzen Tag gestrandet, bis irgendwann eine Ersatzcrew eingeflogen worden wäre. 200 Gäste und eine Crew hätten in Ankara vergeblich auf unser Flugzeug gewartet. Steigen wir aus, haben wir nichts geschafft. Wir konnten das Leben nicht retten, hätten auch unseren Flug-Umlauf nicht zu Ende gebracht und jeder hätte in seinem Hotelzimmer gesessen, bis wir am nächsten Tag in die Basis zurückgeflogen worden wären.

Jede Menge von Bürokratie ist nun zu erledigen. Nach einer Stunde und 50 Minuten fliegen wir weiter. Kein Platz für Gedanken. Professionalität ist gefragt. Wir reden viel im Cockpit. Im Gegensatz zu unserer Kabinencrew haben wir die Gelegenheit dazu. Ich beschließe, die Kolleginnen am Abend zum Essen einzuladen, um reden zu können.

Wir landen in Ankara, geschafft. Jetzt noch die Gäste verabschieden. Ich stelle mich als Kommandant neben meine Purserette. Zu zweit ist es einfacher. Es hatte sich herumgesprochen, die Gäste wussten Bescheid. Beim Aussteigen haben viele Tränen in den Augen. Nahezu alle verabschieden sich mit Handschlag, einige wollen uns in den Arm nehmen, kurz festhalten.

Wir übergeben das Flugzeug der nächsten Crew. Tröstende Worte von allen Seiten. Wir steigen in den großen Bus, verteilen uns weiträumig. Eine Stunde Fahrt ins Hotel liegt vor uns. Jeder mit unzähligen Gedanken im Kopf. Eine verstohlene Träne hier und da. Ich lasse die Crew erst einmal in Ruhe, mir ist jedoch die Verantwortung für sie sehr bewusst. Ich rufe meinen Flottenchef an, erzähle ihm alles, auch, dass ich die Crew einladen möchte. Er sagt: ›Bring mir die Rechnung, das zahlen wir.‹

Ich denke nach und rufe das CISM-Team an, die betriebsinterne Notfallseelsorge. Da ich sonst selbst in diesem Team arbeite, denke ich so: Ich brauche sicher keine Hilfe. Ein guter Bekannter aus dem Team ist zufällig am Telefon. Wir besprechen das weitere Vorgehen für die Crew. Dann sein entscheidender Satz: ›Und du? Brauchst du Hilfe?‹

›Nö.‹

›Was hast du denn gefühlt?‹

Das saß. Es brach aus mir heraus. Und mit Tränen in der Stimme fing ich an zu erzählen. Es saß tiefer, als ich dachte.

Doch dann, nach dem eingehenden Betreuungsgespräch, ging es mir gut. Sehr gut sogar. Und so konnte ich mich voll und ganz meiner Crew widmen und sie am Abend in Ruhe zum Essen und Gespräch einladen, um alles gemeinsam zu verarbeiten.«

Das Erlebnis einer nach Plan zufällig entstandenen Schicksalsgemeinschaft, die in dieser Konstellation wohl nie wieder zusammen fliegen würde. Wie bewahrheiten sich hier Goethes Worte, dass die Vernunft, wenn sie fest und unerschütterlich handelt, das Zufällige zu lenken und zu leiten vermag!