Religion kann und will die Welt verändern

AutorIn: Ulrich Meier im Gespräch mit João Torunsky

Ulrich Meier | Lieber Herr Torunsky, leider kann ich Sie jetzt nur per Telefon auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans erreichen, bin aber sehr dankbar, dass die Technik uns dieses Gespräch ermöglicht.

João Torunsky | Ich grüße Sie auch, Herr Meier. Ich freue mich auf das Gespräch.

 

UM | Wir stehen als Christengemeinschaft im 100. Jahr der Gründung und zugleich vor einem Wechsel im Leitungsorgan der Priesterschaft (Siebenerkreis), denn Sie werden auf der bevorstehenden Priestersynode in Berlin in Ihr neues Amt als Erzoberlenker eingeführt. Ich würde gern diese 100-Jahres-Schwelle zum Thema des heutigen Gesprächs machen, aber mehr mit dem Blick auf die Zukunft. Für den Anfang schlage ich vor, dass wir in Ihre biographische Vergangenheit wandern, und zwar wünsche ich mir zunächst eine kleine Erzählung über ein Erlebnis aus Ihrer Kindheit, das mit dem Bewusstwerden Ihres religiösen Menschen zu tun hat.

JT | Das kann ich gern tun! Ich hatte ein Erlebnis, als ich sieben Jahre alt war, das meinen religiösen Weg sehr geprägt hat. Es hängt mit der ersten Kommunion zusammen. Ich bin ganz im Süden von Brasilien aufgewachsen. Meine Familie war katholisch, ging wenig oder fast nicht in die Kirche, aber war sehr verbunden mit dem Spiritismus. Diese Mischung von katholisch und spiritistisch ist sehr typisch für Brasilien. Die Eltern haben uns sonntags in die Kirche geschickt, aber sind selber nicht gegangen. Deswegen haben wir Kinder unterwegs oft nur gespielt und kamen nach Hause und haben gesagt, dass wir in der Kirche waren. Ich habe zwei ältere Brüder und als der Mittlere neun Jahre alt war, sollte er die erste Kommunion erhalten. Da meine Eltern nicht in zwei Jahren wieder so ein Fest ausrichten wollten, haben sie entschieden, dass wir gemeinsam die erste Kommunion nehmen. Da hatte ich zwei Erlebnisse, die mich sehr geprägt haben. Das eine hat damit zu tun, dass man bei der ersten Kommunion auch die erste Beichte ablegt. Was sollte ich beichten? Wir haben eine Liste bekommen mit allen Sünden, die ein Kind und Jugendlicher begehen kann. Da habe ich nun sehr viel gelernt, was man alles hätte machen können, aber ich hatte nichts von alledem getan. Dennoch musste ich irgendetwas aussuchen, was ich nicht gemacht hatte, und beichten, was ich nicht gemacht hatte, und meine Strafe bekommen, damit ich die Absolution und die erste Kommunion empfangen konnte. Das war das Erlebnis vor der Kommunion, das andere lag danach. Ich habe die erste Kommunion bekommen am Sonntag mit einem schönen Fest, aber am Sonntag waren die Läden der Fotografen zu. Deswegen musste man ein paar Tage später dorthin, um ein Foto für das Familienalbum zu machen. Ich erinnere mich heute noch genau: Es ging ein paar Treppen hinunter, ein halber Kellerraum, und dann kam ich herein, hatte meinen kleinen Anzug angezogen. Ich sah mitten im Raum ein fast übermenschlich großes Bild von Christus. Und der Christus auf diesem Bild stand so, dass er eine Hostie in der Hand hatte und diese reichte. Ich als Kind musste davor knien, damit es auf dem Foto so aussieht, als ob ich die Hostie direkt von Christus empfange. Das hat mich tief, tief berührt, dieses Bild und dieses Zittern, vor dem Christus zu knien, um die Hostie zu empfangen. Als ich vor dem Bild kniete, war klar: Es war ein Bild aus Pappe oder Holzplatte, die Holzplatte war von einem Besenstiel gestützt, sodass ich als Kind nur die Kante von dem Holz sah und den Besenstiel, der das Holz stützte. Im Foto empfange ich die Hostie von dem Christus. Diese Scheinwelt als religiöse Form! Und wenn man dahinter sieht, ist es nur eine mit einem Besenstiel gestützte Pappe. Das hat mich als Siebenjährigen sehr stark geprägt. Es hat mich in meinem Gefühl der Religiosität nicht erschüttert, aber es hat mich schon als Kind sozusagen abgewandt von Institutionen, von Kirche.

 

UM | Sie sind schon viele Jahre als Priester in der Christengemeinschaft tätig ...

JT | … seit 1985.

UM | Würden Sie uns auch ein kurzes Erlebnis von Ihrer Zeit am Priesterseminar erzählen?

JT | Mein Hauptimpuls, zum Priesterseminar zu kommen, war das Kennenlernen der Anthroposophie. Ich hatte davor nicht so einen großen Impuls, religiöse Inhalte zu vertiefen. Damals waren Friedrich Benesch, Hans-Werner Schroe­der, Gérard Klockenbring und Michael Debus als Seminarleiter tätig. Die Möglichkeit, der Anthroposophie auf diese Art vertieft zu begegnen und zu studieren, hat mich sehr tief beeindruckt und mich auch sehr tief geprägt. Das ist das eine Erlebnis, für das ich sehr dankbar bin. Das andere war: Die hierarchische Autorität, die Umgangsformen damals im Seminar – da war ich sehr aufmüpfig. Ich war auf der einen Seite sehr stark interessiert, die Inhalte aufzunehmen, auf der anderen Seite habe ich mich auch stark gegen die autoritären Strukturen gewehrt. Ich war der erste Brasilianer, der Aussicht hatte, geweiht zu werden, deswegen wurde ich mit etwas mehr Geduld ertragen und bin durch das Seminar durchgekommen.

 

UM | Ich erinnere mich an das Erlebnis auf einer Synode, das ich gerne als dritte biographische Station in unserem Gespräch ansprechen möchte. Ich sehe Sie noch vorne vor der großen internationalen Priestersynode, und Sie hatten hinter sich einen gewaltigen Walfischknochen aufgestellt. Der Knochen als solcher hat mich natürlich schon beeindruckt – was mich noch mehr berührt hat, war die Geschichte, die Sie dazu erzählt haben.

JT | Ja, die kann ich ein wenig andeuten. Dieser Walfischknochen begleitet mich seit 1999. Das hängt damit zusammen, dass ich als erster Brasilianer geweiht wurde, und von vornherein war immer das Ziel, dass ich nach Brasilien entsandt werde. Aus ganz verschiedenen Gründen hat das nicht geklappt. Es war nicht möglich; es gab immer wieder irgendetwas, an dem sich zeigte, dass es nicht richtig war. Aber innerlich bin ich in eine Krise gekommen. Ich habe angefangen, an meinem eigenen Priestertum zu zweifeln und schließlich um eine Auszeit gebeten, erst einmal von einem Jahr. Ich arbeitete damals in Ulm, und dann wurde ich freigestellt und bin mit meiner Familie, meiner ersten Frau und unseren vier kleinen Mädchen nach Nord-Norwegen umgezogen, nach Tromsø. Dort habe ich als deutscher Lehrer in der nördlichsten Waldorfschule der Welt zu arbeiten versucht. Es war eine krisenhafte Zeit in meiner Biographie, weil unsere Ehe auseinandergegangen ist, und auf der anderen Seite habe ich gemerkt, dass es dort landschaftlich wunderschön ist. Aber da ich als Brasilianer im Halb-Urwald aufgewachsen bin, habe ich gemerkt, dass ich in einer Landschaft, wo es gar keine Bäume natürlicherweise gibt, nicht leben kann. Durch diese beiden Faktoren – dieses Dort-nicht-leben-Können auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Auseinandergehen meiner Ehe − bin ich in eine sehr tiefe Krise gekommen. Dann habe ich mich zurückgezogen mit der Möglichkeit, bei einem Freund zu wohnen an einem Fjord, wunderschön, in der Zeit, wo die Sonne nicht mehr aufging, alles dunkel war, und bin am Strand spazieren gegangen. Eines Tages bzw. halbnachts sah ich auf einem großen Steinbrocken diesen Wirbelknochen von einem Walfisch. Das war wie ein Geschenk. Aber dieser Zeitpunkt, dieser Moment des Geschenks hängt zusammen mit einem sehr tiefen inneren Erlebnis − das tiefste innere Erlebnis, das ich in meinem Leben erlebt habe, das schwer zu beschreiben ist. Man hört nicht eine Stimme, wie Sie jetzt mit mir reden, und trotzdem war es wie ein Hören, dass es tatsächlich meine Lebensaufgabe in dieser Inkarnation ist, Priester in der Christengemeinschaft zu sein. Aus dieser schwierigen Zeit in Norwegen habe ich diesen Knochen als Erinnerung, als Amulett mitgebracht. Aber vor allem ist es seitdem diese unerschütterliche Gewissheit, dass es meine Aufgabe in diesem Leben ist, Priester in der Christengemeinschaft zu sein, meine Zeit zu nutzen, zelebrieren zu lernen und, soweit ich kann, den Menschen zu helfen, dass jeder seinen Weg finden kann. Das ist verbunden mit diesem Walfischknochen, diese tiefste Krise, die letztendlich einen sehr entscheidenden Wendepunkt in meine Biographie gebracht hat mit dieser Gewissheit, die seitdem lebendig ist.

 

UM | Ich erinnere mich jetzt auch wieder genauer an die Stimmung damals.

JT | Es war in Berlin – genau an der gleichen Stelle, wo ich mich jetzt als Erzoberlenker vorstellen soll. Das ist interessant für mich, dass es die gleiche Stelle sein wird.

UM | Seit wann sind Sie Lenker?

JT | Ich habe 25 Jahre als Pfarrer in vier verschiedenen Gemeinden in Württemberg gearbeitet, von 1985 bis 2010. 2010 bin ich Lenker in Württemberg geworden bis 2015, dann bin ich nach Brasilien umgezogen und Lenker in Südamerika geworden.

 

UM | Jetzt würde ich gern zurückkehren zum 100. Jahr unserer Christengemeinschaft. Meine nächste Frage ist: Gibt es einen Aspekt des Priestertums, der Ihnen für unsere Zeit, für die nächste Zeit der Entwicklung besonders am Herzen liegt?

JT | Ich sehe unsere ganze Aufgabe wie umrahmt von zwei Säulen, die wir in unseren Inhalten finden, in den Zyklen, die Rudolf Steiner den werdenden und gewordenen Priestern der Christengemeinschaft vor 100 Jahren gegeben hat: Ganz am Anfang stellt er eine Frage und in einem der letzten Vorträge benennt er wieder eine Frage. Die erste Frage im sogenannten Juni-Kurs 1921 nennt er die »Kardinalfrage« und die zweite Frage während der Begegnung im September 1924 ist die sogenannte »Dominusfrage«. Was ist damit verbunden? Die Kardinalfrage ist die fundamentale Frage, ob etwas Religiöses, etwas Moralisches, etwas, was mit unseren Idealen zu tun hat, wirklich etwas verändern kann in der sinnlichen materiellen Welt, die bestimmt ist von Kausalitäten. Die Vergangenheit bestimmt immer die Zukunft, d.h. kausal. Und unsere Ideale, unsere Wirksamkeit, unsere Empfindungen und Gedanken religiöser und moralischer Art sind in uns, sind Realitäten in unserer eigenen Seele, die aber auch mit der Zukunft verbunden sind. Und jetzt ist die grundsätzliche Frage, ob es nur ein Nebeneinander gibt zwischen der naturgesetzlich zu denkenden Welt der Kausalität und unserer Innenwelt. Wäre es nur ein Nebeneinander, dann wäre es sehr schön, dass wir die Menschenweihehandlung erleben; es wäre sehr schön, dass wir beten, dass wir Ideale haben, aber das hätte nur mit unserer eigenen seelischen Befriedigung zu tun, es verändert die Welt nicht. Religion zu haben, hätte eigentlich für die Welt keine Bedeutung. Diese Frage ist eine entscheidende Frage: Wie können wir verstehen und tatsächlich erkennen und in diesem Sinne wirken, dass wir unseren Impuls des Wirkens haben, dass die religiösen Inhalte, Ideale eine Möglichkeit real haben, die Welt bis in die Materie zu verändern? Da reicht es nicht, das nur irgendwie zu empfinden, dass es so ist, sondern ich sehe es als eine Aufgabe, dass wir wirken auch für das, was wir als das Religiöse empfinden, aber dass wir wirken, um die Welt zu verändern. So fängt Steiner damals an. Denn wenn das nicht so wäre, hätte alles gar keinen Sinn.

 

UM | Ich glaube, dass diese Kardinalfrage, wie Sie sie gerade beschrieben haben, gerade für die aktuelle Weltlage so tief ernst und gleichzeitig freudig stimmen kann, denn wenn das ein Ideal unseres Christentums wird, dann haben wir tatsächlich einen ganz neuen Sinn gewonnen auch in dieser Weltkrise mit der Pandemie und den Folgen, die sich sozial daraus ergeben.

JT | So ist es! Die Überzeugung, dass das Geistige, das Seelische, unsere Empfindungen, unsere Gedanken und unsere Ideale wirklich in der Welt etwas verändern, das ist die Grundlage, damit man eigentlich nicht vom Materialismus gefesselt ist. Aber es reicht auch nicht, wiederum eine nur subjektive Empfindung zu haben: es wird schon wirken. Man müsste schon genauer verstehen, wie es wirkt, und das ist für mich nur möglich durch die Anthroposophie, nicht als »So ist es«, sondern als eine Möglichkeit zum Verstehen. Unser ganzes Priestertum hat meiner Meinung nach als eine zentrale Aufgabe, in die Welt tatsächlich diese Gesinnung und diese Erkenntnis zu bringen, dass Moralität, Spiritualität, Religiosität in die Welt der Kausalität hineinwirken kann und dass der Sinn davon ist, dass Zukünftiges hereinkommt, das nicht aus der Vergangenheit ist. Alles, was aus der Vergangenheit ist, ist in der Kette von Ursache und Wirkung, der Kausalität. Da ist das eine ...

 

UM | … ich bin jetzt schon sehr gespannt auf Ihre andere Säule, auf die Dominusfrage, das Dominusproblem, weil es uns ja zu den Leitungsaufgaben hinführt.

JT | Es ist interessant, dass dieser Hinweis Rudolf Steiners, den er als die Dominusfrage bezeichnet, zusammenhängt mit der sozialen Wirkung, die wir als Priester haben, d.h. der Wirkung von Mensch zu Mensch. Denn Religion hat sich in der Weltgeschichte so gebildet, dass man immer auch das geistige Leben so erlebt hat, dass immer Menschen da waren, die einem vorangeschritten sind, die großen Eingeweihten, die Führer usw.. Auch die Priester galten als Persönlichkeiten, die einem auf dem Weg der Entwicklung voraus sind. Und die anderen, die eben nicht Priester sind, das Volk, die sind in ihrer Entwicklung noch nicht so weit. Dadurch hatte der Priester die Aufgabe, sozusagen wie aus einem höheren Bewusstsein heraus die anderen zu führen. Das ist genau der richtige pädagogische Ansatz, den wir bis heute gegenüber unmündigen Menschen haben, gegenüber Kindern. Wir sind in der biographischer Entwicklung einen Schritt voraus, und deswegen müssen wir den Kindern insofern helfen, dass wir die Ebene, in der sie noch nicht ganz aufgewacht sind, die Ebene ihrer eigenen Individualität, ihres Ich, wahrnehmen. Wir müssen Verantwortung tragen, Entscheidungen für sie treffen. Und so hat Religion auch gewirkt in der Vergangenheit. Aber wie ist das jetzt in einer Zeit, wo jeder Mensch einen Zugang zu seinem eigenen Ich haben kann? Das ist die Dominusfrage: Bin ich der Hirte in dem alten Bild, dass ich vorangehe oder hinterhergehe und die anderen als Schafe, die mir folgen, und ich schaue, dass sie nicht vom Weg abkommen? Dieses Bild vom Hirten und den Schafen hängt zusammen mit der Dominusfrage. Wenn man im Johannes-Evangelium dieses »Ich-bin-Wort« liest, wird deutlich: Der gute Hirte wird nicht deshalb als gut beschrieben, weil er die Schafe führen kann – das ist nicht die Hauptsache. Er ist deshalb ein guter Hirte, weil er sich opfert. Die Dominusfrage wird uns heute als Aufgabe gegeben: Die Aufgabe, die wir haben, besteht darin, den Menschen zu helfen, dass sie immer mehr ihr eigenes Ich, ihr höheres Ich finden. Das ist eine ganz andere Aufgabe, als Religion sie bisher gehabt hat. Eine Aufgabe, die wir auch immer mehr uns bewusst machen und verwirklichen müssen: Dass es, wenn ich mit einem anderen Menschen zu tun habe, darum geht, ihm zu helfen, dass er sein eigenes Ich findet und aus seinem eigenen Ich heraus freie Entscheidungen treffen kann, ein freier Mensch wird. Das ist für mich, was mich am Priestertum begeistern kann – nicht den anderen zu sagen, was sie zu tun haben, sondern zu helfen, dass sie aus ihrer eigenen Freiheit heraus, in der Authentizität mit sich selbst ihr eigenes Leben in die Hand nehmen. Dann, glaube ich, sind wir Priester für die Gegenwart und für die Zukunft.

 

UM | Vielen Dank! Das spricht mir sehr aus dem Herzen. Ich habe noch zwei Fragen zum Abschluss, Herr Torunsky. Die eine: Sie stehen jetzt davor, das neue Amt zu übernehmen, Oberlenker, Mitglied des Oberlenker-Trios und zentrale Aufgabe im Siebenerkreis. Möchten Sie uns eines der Ideale sagen, das Sie in diese Aufgabe mit hineinnehmen?

JT | Die Aufgabe sehe ich in zwei Richtungen. Die eine Richtung geht nach innen, die andere nach außen. Nach innen: Wo müssen wir einen Schritt weiterkommen innerhalb unseres Priesterkreises? Wir bemühen uns seit mindestens 100 Jahren, die ganze Menschheit bemüht sich, und man merkt, die Aufgabe wird immer größer. Und das ist die Frage der Zusammenarbeit: Wie schaffen wir immer mehr fruchtbare Zusammenarbeit? Religiös gesprochen: Wie werden wir eine Pfingstgemeinschaft? Was heißt das für mich? Wenn ich allein bin, ist die Aufgabe, dass ich eine Idee habe und dann den Willen habe, meine Idee zu verwirklichen. Solange ich allein wirke, ist das genau das Richtige. Wenn ich mit anderen arbeite, muss ich auch eine Idee haben. Jeder muss eine Idee haben. Aber der Wille, dass ich meine Idee verwirkliche, wird zu einem Problem, denn wenn jeder den Willen hat, seine Idee zu verwirklichen, sind wir mittendrin in unseren sozialen Problemen. Deswegen ist nach innen mein großes Anliegen: Wie schaffen wir es, zu verwirklichen, dass wir gute Ideen haben, uns die Ideen mitteilen, aber den Willen, der mit unserer Idee verbunden ist, opfern und versuchen, den Willen und vielleicht auch eine neue Idee aus der Gemeinschaft heraus – deswegen meine ich »Pfingstgemeinschaft« − zu verwirklichen: Als Gemeinschaft, nicht nur als Individuum, intuitionsfähig zu werden für das, was ein gemeinsamer Wille werden kann. Das ist nach innen gesehen für mich die größte Aufgabe. Und nach außen in die Welt gesehen, ist für mich die Aufgabe: Die Menschen zu erreichen, die nach meinem Erleben heute immer mehr Suchende sind nach Spiritualität und nach Religiosität. Die Menschen hungern und suchen nach Spiritualität, nach Religiosität, nach wirklicher Geisterkenntnis. Und wir haben etwas zu geben, wir können mit den Menschen gemeinsam einen Weg gehen. Aber was sie nicht suchen, sind Kirchen im Sinne von religiösen Institutionen. Für mich ist dieser Begriff »Kirche« sehr wichtig, denn er kommt nur ein einziges Mal vor in den Gebeten, die wir in der Christengemeinschaft pflegen, und das ist im Credo, im elften Satz. Darin lebt für mich der eigentliche Sinn von Kirche – eine geistige Ebene. Und jetzt haben wir die Schwierigkeit, dass wir in diesen 100 Jahren Formen ausgebildet haben, Gebäude gebaut haben usw., wofür ich zutiefst dankbar bin. Sie bilden die Grundlage für die Gegenwart und Zukunft. Wir müssen das unbedingt weiter pflegen. Aber gleichzeitig erzeugen die Formen ein Bild, dem oft schwer anzumerken ist, dass wir nicht eine institutionelle Kirche sind wie viele andere. Die größte Herausforderung für mich ist, dass wir so werden, dass die Menschen bei uns erleben können: Wir sind eine Quelle, ein Brunnen für Anregungen, für geistige Nahrung und Hilfe, sodass jeder seinen eigenen Weg findet. Das ist, glaube ich, schwierig. Es ist nicht leichter, aber es ist anders, wenn man etwas ganz Neues gründet. Jetzt müssen wir sehen, dass das, was 100 Jahre entstanden ist, unser Leib ist, unsere Geschichte ist, unser Grund, auf dem wir wachsen und stehen können. Aber immer weniger Menschen suchen das; sie suchen das, was wir innerlich haben, aber es wird oft von etwas begleitet, was vielleicht viele Menschen daran hindert, auf das Innere wirklich zu kommen. Da müssen wir schauen, wie wir das schaffen.

 

UM | Nur noch ein ganz kurzer Blick auf die Tagung, auf die wir zuleben, 2022 im Oktober in Dortmund. Meine Frage dazu: Haben Sie einen Wunsch an diese Tagung, an die Christengemeinschaft, an die Zeit?

JT | Wenn ich auf die 100 Jahre schaue, was mich am meisten jetzt beschäftigt − innerlich, im Moment, es ist noch nicht fertig −, ist die Frage von Nikodemus im Johannes-Evangelium: Wie kann ein Mensch neu geboren werden? Kann er zurückgehen in den Mutterleib, um neu geboren zu werden? Man könnte das jetzt verwandeln zur Frage: Wie kann die Christengemeinschaft neu gegründet werden? Kann sie 100 Jahre zurückgehen auf ihren Ursprung, um neu gegründet zu werden? Die Antwort ist sowohl für Nikodemus wie für uns ganz klar: Das geht nicht! Das ist auch nicht gemeint! Sondern: Was bedeutet diese Antwort von Christus an Nikodemus jetzt heute für uns? Wer nicht geboren wird aus der Lebenskraft des Wassers und des Geistes, der hat keinen Zugang zu einem Zukünftigen. Wir müssen den Weg gehen, unseren eigenen Impuls, der sich in die Welt inkarniert hat vor 100 Jahren, so neu zu fassen, dass wir wirklich aus dem Geist heraus, wie es im Johannes-Evangelium heißt, wirken wie der Wind. Man weiß nicht, wo er herkommt und wo er hingeht, aber er wirkt – und wirkt überall. Es gibt keine Sicherheit mehr. Es sind nicht mehr feste Fundamente, die wir bauen können im 21. Jahrhundert. Wir müssen lernen, auf dem Wasser zu laufen, aus der Bildekraft, aus dem Lebendigen zu wirken, und wie der Wind zu sein. Man weiß nicht, wo man herkommt und wo man hingeht, aber man ist froh, wenn etwas weht und einen ein bisschen weiterbringt.

UM | Herzlichen Dank, Herr Torunsky, für dieses anregende Gespräch!