Das Reich der Himmel ist nahe | Johannes in der Menschenweihehandlung

AutorIn: Georg Dreißig

Schulderkenntnis – ein Wunder, das uns mit Leben begabt

Welch ein Wunder ist die Tatsache, dass wir nicht nur schuldig werden, sondern unsere Schuld auch selbst erkennen können und darüber hinaus sogar zumindest ahnen, was wir anders, richtiger hätten tun sollen! Unsere Versäumnisse machen uns, wenn wir darauf achten und bereit sind, darauf zu schauen, hellfühlend für das Wahre und das Gute. Die Antwort, die Rudolf Steiner auf die Frage: »Wo ist Christus heute?« gab: »In der Schuld«, kann zur eigenen Erfahrung werden: In meiner eigenen Schuld begegne ich Christus.

Das war nicht immer so. Es bedurfte eines Anstoßes und einer Ermutigung, auf die eigene Schuld zu schauen und sie daraufhin zu befragen, was an ihrer Stelle hätte geschehen sollen. Diesen Anstoß zu geben, war die Aufgabe des Täufers: Er sollte die Menschen zur Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und zur Sinnesänderung führen. Zugleich aber sollte er ihnen die Nähe der Himmel aufschließen (Mt 3,1–2). Die Menge derer, die auf ihn hörten – sie kamen in hellen Scharen, denn es war an der Zeit –, standen nicht nur am Ufer des Jordan, sondern sie wurden durch die Predigt des Täufers an die Schwelle zur göttlichen Welt gerufen. Diese Schwelle riss in ihrem eigenen Innern zunächst wie ein verschlingender Abgrund erschreckend auf. Zu dieser erschreckenden Erfahrung aber gesellte sich die völlig anders geartete, milde, gnadenvolle: dass ein Himmlischer sich anschickte, Mensch zu werden, den Abgrund zu überwinden und ihnen entgegenkam: der Menschensohn Christus.

Anrühren kann einen die Hilflosigkeit der Menschen damals, die, so schildert es das Lukasevangelium (Lk 3,10–14), nicht wissen, wie sie sich in einer vorgegebenen Situation anders verhalten sollen, weil die innere Stimme, das eigene Gewissen, noch nicht spricht. »Was sollen wir tun?«, möchten sie von dem Täufer wissen. Und er gibt ihnen Grundlagenunterricht: »Wer zwei Hemden hat, soll dem geben, der keins hat, und wer Speise hat, tue in gleicher Weise.« Den Zöllnern sagt er: »Treibt nicht mehr ein, als euch befohlen ist«, den Soldaten: »Misshandelt und drangsaliert niemanden und gebt euch mit eurem Sold zufrieden.« Welch wunderbare Fähigkeit ist aus diesem Anstoß des Täufers geworden! Heute offenbart sich dem, der auf seine Schuld schaut mit der ehrlichen Frage: Was soll ich tun? die Antwort im eigenen Inneren. Wir sagen dann: Mir schlägt das Gewissen.

Die von dem Täufer angestoßene Haltung üben wir innerhalb der Menschenweihehandlung, wenn wir uns dem göttlichen Weltengrund zuwenden und ihm opfern, weil auch unsere Abirrungen, Verleugnungen und Schwächen zu ihm geflossen sind. In dieser Umwendung ist die Nähe des Täufers besonders spürbar. Da steht er, bildlich gesprochen, an der rechten Seite des Altars und schaut auf unser Handeln, an dem sich entscheidet, ob ein göttlicher Impuls in der Erdenwelt Wirklichkeit werden kann oder ob er daran gehindert wird. Und er hilft mit, dass jenes Wunder sich ereignen kann, das uns ermöglicht, Leben zu haben: das Wunder, dass wir angesichts der Abirrungen für unser eigentliches Ziel wach werden, angesichts unserer Verleugnungen für die Wahrheit, angesichts unserer Schwächen für das, was uns erkraften kann. Wir ändern unseren Sinn, und zwar radikal.

So ist uns von allen Heiligen Johannes der Täufer besonders nahe. Im Gedenken an sein Wesen feiern wir nicht nur eine ganz neue Festeszeit, er ist auch der einzige, der neben den Wesen der göttlichen Trinität im Vollzug der Menschenweihehandlung mit »Du« angesprochen wird. Das Wörtchen Du aber kann nur sinnvoll angewandt werden, wenn derjenige, den wir damit benennen, unmittelbar in Raum und Zeit anwesend ist. Du, Johannes, bist anwesend, wenn wir die Menschenweihehandlung feiern.

Indem wir die Sinneswandlung üben und die Opferung vollbringen, wirkt in uns der Impuls des Täufers lebendig fort. Johannes ist unser Mitzelebrant, und als solchen sprechen wir ihn zur Johannizeit in der Menschenweihehandlung auch an. Er wirkt auch heute als Täufer, der Sorge dafür trägt, dass das Reich der Himmel sich uns immer wieder aufs Neue nahen und Wohnung auf Erden finden kann.

Der Mitzelebrant auf der linken Altarseite

Die Tatsache, dass der Täufer in der Menschenweihehandlung der einzige Heilige ist, dem wir uns mit dem Wörtchen »Du« bittend zuwenden, sollte nicht so verstanden werden, als wäre er überhaupt der einzige Heilige, der uns in der Handlung beisteht. Im Gegenteil weckt uns seine Nähe dafür, dem nachzuspüren, welche anderen uns vertrauten Christusdiener mit der Menschenweihehandlung ähnlich innig verbunden sind, auch wenn wir mit ihnen nicht unmittelbar ins Gespräch eintreten. Der Täufer führt uns über die Schwelle zu der Wahrnehmung derjenigen, die wie er selbst auf der Himmelsseite ihre Kräfte strömen lassen, wenn wir auf Erden die Menschenweihehandlung zelebrieren.1 Hier wollen wir uns ganz konkret fragen: Wessen Wesen hat sich das Fortwirken des Evangeliums so zur eigenen Aufgabe gemacht, dass er auch nach seinem Tod damit verbunden bleibt, wer zelebriert mit uns in unserem Lauschen auf das Evangelienwort an der linken Altarseite? Oder: Wessen Lebensimpuls klingt hinein in das Wandlungsgeschehen und den Wandlungsvollzug in der Mitte?

So fragend können wir auch auf der Evangelienseite des Altars einer Johannesgestalt begegnen: dem Evangelisten Johannes, der den Beginn des Wirkens Christi zurückverfolgt bis zum Urbeginn und sein Evangelium entsprechend mit den Worten anheben lässt: »Im Urbeginne war das Wort.« Als Lazarus hat er die Einweihung erfahren (Joh 11) und hat sich im Todesschlaf bis in das Wirken dieses Wortwesens im Urbeginn hineingelauscht, so dass das Wort ihm mehr war als Begriff, mehr als Hinweis, dass er es als Ausdruck und Offenbarung des höchsten Gotteswesens erleben konnte.

Nicht nur das Leben und Wirken Jesu Christi hat seinen Quell im Wort am Urbeginn. Jedes Menschenleben strömt aus diesem Quell hervor, und dieser Quell kann für uns im Durchlauschen der Evangelienworte lebendig werden. Zunächst hören wir Berichte von Geschehnissen, die sich an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt zugetragen haben: So ist es damals gewesen. Je öfter und offener wir diesen Worten lauschen, umso mehr werden wir noch von etwas anderem berührt: von den Impulsen dessen, von dem da in dieser bestimmten Situation die Rede ist. Wir lernen das Wesen des Christus verstehen in seinen Absichten und Zielen. Unser Lauschen hat uns hinter das, was in gewöhnlichen Worten gesagt wird, geführt. Dies ist ein erster Schritt in die Welt der Impulse der göttlichen Wesen, in die wir uns fortan immer tiefer hineinlauschen können. In dem, was die Evangelienberichte uns vermitteln, leuchtet Vergangenheit in unsere Zeit herein. In dem, was sich hinter diesen Berichten öffnet als die Sphäre der wirksamen Impulse, werden wir ganz gegenwärtig berührt und berufen. Darin steht uns Johannes der Evangelist als lebendiger Beistand helfend zur Seite.

Der Beistand in der Mitte

Inmitten können wir uns des Beistands einer weiteren Johannesgestalt vergewissern, derjenigen des Apokalyptikers, der die Fähigkeit hatte, im Alltäglichen das Göttliche, im Zeitlichen das Ewige, im Untergehenden das Aufgehende zu schauen und es den Menschen zur Kenntnis zu geben. Die Welt erscheint ihm in unterschiedliche, von erhabenen Wesen belebte Bereiche gegliedert, die aber nicht voneinander getrennt sind, sondern einander beeinflussen, hindernd und fördernd, und die sich mehr und mehr durchdringen sollen. Nichts geschieht auf Erden, das nicht in den Himmeln Bedeutung hätte; nichts geschieht in den Himmeln, das nicht seine Auswirkungen auf der Erde, in der Menschenwelt zeigte. Dieses Bewusstsein weckt der Apokalyptiker mit der Darstellung dessen, was er in seinem eigenen Wesen als Offenbarung des Christus erfahren hat. Ganz neue, ungewohnte Beziehungen müssen wir gedanklich zu fassen suchen, wenn wir seinen Text verstehen und ihn so durchfühlen wollen, dass er unseren Willen ergreifen und durchwärmen kann und unser Wahrnehmen aufreißen, die apokalyptische Wirklichkeit anzuerkennen, in der wir selbst stehen. Ein undifferenzierter Vergleich der Schilderungen des Apokalyptikers mit irdischen Dingen und Ereignissen scheitert auf jeder Seite. Gerade dadurch sind wir hier der Wirklichkeit unseres eigenen höheren Wesens besonders nahe und den Verhältnissen, in denen es seine ewige Existenz hat.

Die Wandlung innerhalb der Menschenweihehandlung können wir erst verstehen, wenn wir fühlen, dass wir selbst mit unseren Seelenkräften einen Beitrag dazu leisten müssen, damit das, was am Altar erscheint, volle Wirklichkeit auf Erden gewinnen kann – in uns und durch uns. Die Naturwissenschaft ist heute zu der Einsicht gekommen, dass Wirklichkeit nicht unabhängig vom Beobachter ist. Die Offenbarung des Johannes führt uns zu der Einsicht, dass auch die Wirklichkeit der göttlichen Welt und ihr Hineinklingen in unser Leben nicht einfach beobachtet werden können, sondern abhängig vom Beobachter so oder so Erdenwirklichkeit annehmen. Am Altar üben wir, diese Beziehung in unserem Tun lebendig zu machen – im Sinn des Apokalyptikers, mit dessen tatkräftigem Wesen wir uns so verbünden, dass wir auch seinen Beistand in unserem heiligen, heilenden Tun empfinden können.

Individualität und Gotteswirken

Auf einzelne Persönlichkeiten zu schauen, entspricht unserem Erdenbewusstsein. Johannes dem Täufer, Johannes dem Evangelisten, Johannes dem Apokalyptiker, diesen dreien haben wir uns nachsinnend zugewandt. Für sie selbst ist aber wie für alle Heiligen das Persönliche nur insofern entscheidend, als es die Möglichkeit schafft, dass Gottes Wort, seine Schöpfergedanken und Schöpferimpulse, da hindurchklingen zu lassen, so dass sie erfahrbar und greifbar in unserer Erdenwelt werden. In jeder der drei Gestalten steht eine ganz individuelle Erdenpersönlichkeit vor uns; zugleich öffnen sich in jeder von ihnen alle Himmel mit ihren zahllosen, dem Göttlichen dienenden Wesen. Wenn wir »Du« zum Täufer sagen, sagen wir »Du« zur göttlichen Welt, die uns in ihm so nah ist wie ein Mensch, wie mein Nächster, eine Nähe, die wir als Gnade erfahren können. Alle diese Persönlichkeiten tragen den Eigennamen Johannes, der bedeutet: »Gott ist Gnade«. Diese Gnade strömen zu lassen, ist Ziel des Wirkens derer, die ihn tragen – damals und heute. An jenem Samstag im März waren sie beim Feiern der Menschenweihehandlung plötzlich alle spürbar anwesend, die Wolke der Heiligen, die uns – jederzeit – zur Seite stehen. In jedem einzelnen von ihnen ist uns das Reich der Himmel ganz lebendig, ganz kräftig, ganz persönlich nahe, das Reich der Himmel, in dem wir selbst leben. Manchmal bemerken wir es.