Der Erwerb der Freiheit zwischen Risiko und Krise

AutorIn: Mechtild Oltmann-Wendenburg

Ein bedeutender Augenblick in der menschlichen Biographie ist, wenn das Kind – nach zahllosen vergeblichen Versuchen – sich zum ersten Mal ohne Hilfe von außen aufrichtet und ohne Stütze steht. Was dabei unsichtbar vor sich geht ist, dass durch das Aufgeben der äußeren Sicherheit des Festhaltens eine Kraft von oben kommt, die das kleine Wesen in eigener Vollmacht hält. Eine Riesenfreude: Ich stehe, ich bin, ich – aufgerichtet!

Das zu üben bedeutet, ein Risiko einzugehen. Aus der Unsicherheit, der ständigen Möglichkeit hinzufallen, entsteht die individuelle Geste des werdenden Ich.

Dem unbewussten Drang nach der Erde sind die Ziele dieses Lebens eingeschrieben. Später entstehen dann große Unterschiede in der Risikobereitschaft innerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Auf Nummer sicher zu gehen aus Angst vor dem Scheitern oder aus Enttäuschung ist die eine Seite. Sie bringt die bürgerliche Existenz hervor und vielleicht auch ein brauchbares Sparkonto. Die andere Seite ist eine gewisse Freude am Risiko. Wer sie hat, wird mehr erleben, beweglicher und aufmerksamer in der Welt stehen. Es macht frei, nicht zu wissen, was kommt.

In der Gegenwart haben sich die Unsicherheiten und Risiken noch einmal gesteigert, trotz vieler Berechenbarkeiten. Wie ein drohendes Unwetter zieht da etwas auf. Lange vor ihrem Ausbruch wird sie vorhergesagt, wie in der Weltwirtschaft oder im Klimawandel: die Krise.

Etwas leiser, aber doch unüberhörbar geschieht das gerade auch in der christlichen Kirche. Papst Franziskus schrieb in seinem Antwortbrief an Kardinal Marx, dessen Rücktrittsangebot er erhielt: »Die gesamte Kirche ist in der Krise wegen des Missbrauchs und kann jetzt keinen Schritt nach vorn tun, ohne diese Krise anzunehmen.« Und er fährt fort: »Die Krise anzunehmen als Einzelner und als Gemeinschaft, das ist der einzig fruchtbare Weg; denn aus einer Krise kommt man … als ein besserer oder als ein schlechterer Mensch hervor, aber niemals unverändert.«

Dann ermutigt er den Kardinal: »Mach weiter.« So wurde auch Petrus in der Krise jener dreifachen Prüfungsfrage nach seiner Liebe zu Christus durch die Aufforderung »Weide meine Lämmer« wieder ermutigt (Joh 21).

Das regt dazu an, die Frage einmal umzukehren: Muss eine Krise vielleicht überall da eintreten, wo dringend erwartet wird, dass sich etwas verändert? Muss sich nicht nur unser aller Verhältnis zur Erde und zu aller geschaffenen Kreatur auf ihr und zur Atmosphäre um sie herum grundsätzlich ändern? Und brauchen wir nicht ebenso ein neues Verhältnis zu Religion, Glaube, Schuld und Verdrängung?

Die freieste Tat des Menschen ist der Entschluss!

Unter allen Entscheidungen, die mit Gott, der geistigen Welt und ihrer Wesen zusammenhängen, haben sich die Verhältnisse so verändert, dass man die Anregungen dazu nicht aus dem eigenen Inneren allein, sondern aus einer aus weiter Umgebung, aus dem Kosmos selbst gestellten Frage hören kann. Diese Frage durchtönt jetzt unser Leben überall auf der ganzen Welt, im Wachen und im Schlafen, jederzeit und überall.

Es ist dieselbe Frage, die Petrus, in seinem »Kamaloka« auf der Erde durch den Auferstandenen gestellt bekommt (Joh 21) und die heute der Wiederkommende stellt: »Liebst du mich mehr als die anderen hier?« Da schmilzt jeder Wettlauf und Ehrgeiz dahin. Aus der Art und Weise, wie jedermann in Freiheit und immer neuer, stützenloser Aufrichte auf seine Krise antworten wird, entsteht Zukunft.