Gründung und Neubeginn der Christengemeinschaft | Zum Auftakt des Jubiläumsjahres 2022

AutorIn: Ulrich Meier im Gespräch mit den Oberlenkern Oliver Steinrueck, Christward Kröner und João Torunsky

 

Ulrich Meier | Danke für die Bereitschaft zu diesem Gespräch, in dem ich mit Ihnen an das Jahr 2022 denken möchte, in dem wir das 100. Jubiläum der Gründung begehen. Meine erste Frage richtet sich an jeden von Ihnen persönlich: Welcher Gedanke, welches Bild, welche Bewegung aus dem Umkreis der Gründung ist so fruchtbar, dass es sich lohnt, sie in das zweite Jahrhundert unserer Christengemeinschaft mitzunehmen?

 

Oliver Steinrueck | Ich kann beginnen: Als Geburtstag der Christengemeinschaft gilt uns der 16. September 1922, an dem die erste Menschenweihehandlung geschehen ist. Es war ein Ereignis nur unter Priestern. Der Sinn der Christengemeinschaft erfüllt sich aber erst darin, dass Gemeinden gegründet werden, was erst im Advent 1922 begann. Ich möchte das mit einem Kind vergleichen, das nach der Geburt schon da ist und sich bewegt, aber noch nicht zu atmen begonnen hat. Man kann sagen: Im Advent 1922 strömte mit dem Beginn des Gemeindelebens der Atem in die Christengemeinschaft ein. Sie war vorher schon da, aber noch nicht ganz zur Welt geboren. Wir haben heute ein sehr starkes Bewusstsein von der Priestergemeinschaft. Ich meine aber, dass wir das erweitern müssen auch zum Bewusstsein einer Mitgliederkirche. Rudolf Steiner hat bei der Gründung mit den Priestern unmittelbar zusammengewirkt, er hat die Priesterschaft als Organ geformt, sie soll das Wesen der Christengemeinschaft von der sakramentalen Verantwortung her tragen. Er hat nur wenig darüber gesprochen, wie das konkrete Leben innerhalb von Gemeinden entfaltet werden könnte. Das hat er der Priesterschaft überlassen. Für die Zukunft könnte das heißen: Wie formen wir das Gemeindeleben? Das ist unsere Aufgabe.

 

UM | Es ist etwas da, aber es ist noch nicht zur Welt gekommen.

 

Christward Kröner | Ich könnte anknüpfen. Wir sind ja heute alle Nachgeborene der Gründer. Solange wir existieren, existierte auch schon die Christengemeinschaft. Das ist eine Wirklichkeit und zugleich eine Illusion. Für die Gründer war es anders: Es gab noch keine Christengemeinschaft. Es gab die Möglichkeit, dass diese Sakramente auf die Erde kommen und dann unter den Menschen in den Gemeinden zu leben beginnen, aber nur wenn eine Priesterschaft da ist, die sie trägt, hütet und im besten Sinne verwaltet. Sie haben mit der Hilfe Rudolf Steiners aus dem Nichts heraus etwas ins Leben gesetzt. Heute haben wir Gebäude, Priester, Gemeinden und 100 Jahre Geschichte. Dafür können wir dankbar sein. Aber zugleich wäre es illusionär, zu meinen, da wäre etwas, das aus sich selbst heraus bestünde, die Existenz der Christengemeinschaft sei in die Zukunft hinein garantiert. Bei der Frage, welche Motivation oder welches Feuer man aus der Anfangssituation in die heutige Zeit herübernehmen könnte, wäre das für mich der Versuch, sich immer wieder neu klarzumachen: Wir stehen eigentlich in der gleichen Situation; da ist nichts, außer etwas, was Vergangenheit ist. Wenn heute und morgen etwas sein soll, dann muss es immer neu entstehen und gewollt und getragen werden. Daran kann ich mich begeistern, dass die Gründer nicht auf etwas Gewordenes bauen konnten, sondern vollständig zukunftswärts gerichtet waren. Schaffenskraft und Enthusiasmus in Bezug auf das Noch-nicht-da-Seiende, das finde ich fruchtbar im Besinnen dieser 100 Jahre.

 

UM | Die Illusion des Seienden und die Begeisterung für das Werdende.

 

João Torunsky | Auf die Frage, was mich begeistern kann, wenn ich auf die Gründung schaue, was für uns ein Leitstern für die Zukunft sein kann, bin ich auf das gleiche Motiv gekommen: Auf eine große Bewunderung für die Gründer und später die jungen Gemeinden, die den Mut hatten, ins vollkommen Ungewisse zu gehen – allein von der Begeisterung geleitet, die neuen Sakramente in die Welt zu bringen, mit ihnen dem Christus zu dienen. Ich glaube, das war und ist nicht nur zukunftsfähig, sondern zukunftsnötig. Die Gründung der Christengemeinschaft – in der Schweiz, in Deutschland und Europa – geschah in den Folgen des Ersten Weltkriegs. Da lebte die Gesellschaft in einer tiefen Ungewissheit. Was aus der Vergangenheit kam, hatte politisch und wirtschaftlich ins Chaos geführt. Und in dieses Chaos musste etwas Neues kommen. Dann kam der Zweite Weltkrieg – mit einem weitaus größeren Chaos in Mitteleuropa. Nach 1945 war die Christengemeinschaft ein zweites Mal zu gründen, wieder um etwas Neues in dieses Chaos zu bringen. Die Jahrzehnte nach dem Krieg brachten in Mitteleuropa, besonders in Deutschland, den Wohlstand. Das kann für uns eine Gefahr sein, dass wir immer mehr − bewusst, halbbewusst oder unbewusst – aus einem Gefühl vermeintlicher Sicherheit unser Leben begründen. Das hat jedoch keine Zukunft. Daher glaube ich, dass es für die kommenden Jahre und Jahrzehnte nicht mehr gelingen wird, sich auf scheinbare Sicherheit zu gründen oder einfach das weiterzumachen, was sich als Tradition erwiesen hat. Das wird aber bedeuten, nicht zu wissen, ob es gelingt. Denn die Welt – und wir mit ihr – geht in eine immer größere Unsicherheit. Aus der Begeisterung für die Sakramente wirken zu wollen – das brauchen wir nach meiner Auffassung jetzt mehr als in den letzten 60, 70 Jahren. Man hat es vorher stark gebraucht und man wird es auch weiterhin und vielleicht noch mehr brauchen.

 

UM | Im zweiten Schritt des Gesprächs würde ich von Ihnen gern ein paar Beispiele zu folgender Frage hören: Was können wir in den nächsten 100 Jahren getrost weglassen, was müssen wir vielleicht loslassen und sollten es nicht mitnehmen über die Schwelle ins neue Jahrhundert?

 

Oliver Steinrueck | Ich habe lange Jahre in Nordamerika gearbeitet. Als die Christengemeinschaft dort gegründet wurde, wurden die Sakramente in der Form übernommen, wie sie in Deutschland bekannt waren, natürlich wurden die Worte in die englische Sprache übersetzt. Es wurden aber nicht nur die Formen der Sakramente von einem Teil der Erde zum anderen gebracht, sondern auch die Form des Gemeindelebens. Wir haben in Amerika Gemeinden so gegründet, wie man es hier in Deutschland machen würde, oft von deutschen Mitgliedern, die ausgewandert waren. Es ist aber eine Frage, die sich überall auf der Erde stellt: Was trägt man dorthin von dem, was wir aus der Tradition kennen? Es hat lange gedauert, bis wir wach dafür wurden, dass das, was nicht direkt mit der Form des Kultus zusammenhängt, sondern mit dem Gemeindeleben, gar nicht so sein muss; es kann auch ganz anders sein von einem Erdteil zum anderen. Das könnte man in Bezug auf die Zeit auch hier innerhalb von Europa befragen. Was an Formen in den Gemeinden lebt, ist uns nicht in die Wiege gelegt. Die Form der Sakramente schon, aber das ganze Umfeld – wie freie Gemeinden aussehen, in die das Sakrament eingebettet ist – das ist nicht festgeschrieben. Wir brauchen mehr Mut, das Überlieferte in Frage zu stellen. Ein Beispiel: Muss die Gemeinde in der Taufe frontal zum Geschehen sitzen? Kann sie sich nicht auch in einem Kreis um das Kind, die Paten und die Eltern versammeln? Wir können und müssen kreativer sein, als wir jetzt sind. Die Gestalt der Sakramente ist uns als bleibend anvertraut, aber das Umfeld muss immer wieder auf seine Stimmigkeit an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten befragt werden.

 

Christward Kröner | Ich habe auch die Hoffnung, dass sich »alte Zöpfe« oder Missverständnisse auflösen lassen, die herumgespukt haben und auch vielleicht dazu geführt haben, dass es mitunter in der Christengemeinschaft ein unangemessen elitäres Bewusstsein gegeben hat in dem Sinne, wir seien die eine Kirche. Das halte ich für ein kolossales Missverständnis. Wenn es gutgeht, sind wir Teil der einen Kirche – wenn es gut geht! Es mag aus der Begeisterung des Anfangs heraus verständlich sein, aber es hat dann doch einen sehr exklusiven und letztlich auch sektenhaften Touch, wenn man tatsächlich mit diesem Anspruch der einen Kirche lebt. Ich würde mich freuen, wenn diese Hybris langsam verschwindet. Unsere Dialogfähigkeit und Berührungsfähigkeit gegenüber anderen spirituell Suchenden sollte sich weiterentwickeln, damit offenere Gespräche und Begegnungen möglich werden – und konkret vor Ort auch das Empfinden: Wir sind gemeinsam unterwegs, auch mit Menschen, die der Christengemeinschaft nicht zugehören, aber sich sehr wohl dem Christus zugehörig fühlen, in anderen Kirchen oder ohne Kirche. Darauf hoffe ich. Ebenso, dass wir vielleicht auch im Bereich der Kultusmusik uns etwas breiter aufstellen und die Brückenbauqualität der Musik und insbesondere des Gesangs in Bezug auf das Heranführen der Menschen an die Sakramente immer mehr entdecken und nicht einseitig nur eine Art von Musik kultivieren, bei der es etlichen Menschen schwerfällt, spontan ihr Herz zu öffnen.

 

João Torunsky | Was wir nach meiner Überzeugung überwinden müssen, ist ein falsches Verständnis unserer Hierarchie. Wir haben eigentlich das Verständnis, dass wir eine Priesterhierarchie haben und nicht eine Hierarchie gegenüber den Mitgliedern, und wir wollen durch die Hierarchie einen Mittelpunkt schaffen und nicht eine Pyramide, durch die oben und unten entsteht. Das machen wir uns immer wieder bewusst. Aber sozial wirkt das Alte sehr stark, und zwar zum Teil aus der Priesterschaft heraus gegenüber den Mitgliedern, und zum Teil als Erwartung der Mitgliedschaft, dass wir eine Hierarchie sein sollten, in der es tatsächlich ein Obrigkeitsverhältnis zwischen uns gibt. Wie wird es möglich, dass jedes Treffen – sei es von Priestern untereinander, sei es zwischen Priestern und Mitgliedern oder Freunden – eine Begegnung von Ich zu Ich sein kann, in die nicht die Tatsache hineinwirkt, dass wir geweiht sind oder ein Amt tragen als Lenker, Oberlenker, Erzoberlenker? Für mich wäre es zukünftig, wenn wir all das loslassen, was aus der Vergangenheit kommt, aus religiösen oder sozialen Gewohnheiten, all das, was die Begegnung von Ich zu Ich verhindert. Das wäre ein eindeutiges Verständnis von Hierarchie als Bewusstseinsmittelpunkt und Verantwortung gegenüber dem Sakrament und der Form, wie wir die Sakramente verwalten wollen.

 

UM | Vielen Dank für die wunderbaren Themen! Es gibt ja vielleicht noch andere, die auch unsere Mitglieder und Leser entdecken können. Die Oberlenker hören und sehen weltweit – das ist ein Teil ihrer Aufgabe −, und das wäre für mich die letzte Runde unseres Gesprächs, zu schauen: was gibt es für Initiativen, die das Jahr 2022 als einen guten Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert der Christengemeinschaft würdigen?

 

João Torunsky | Vor diesem Gespräch hatten wir eine Begegnung mit den Seminarleitern der drei Ausbildungsorte unseres Gesamt-Seminarkonzepts, von Toronto über Hamburg bis Stuttgart. Die Kollegen haben erzählt, welche Impulse sie für ihre Arbeit haben. Mich hat beim Zuhören sehr begeistert, dass es für die drei ziemlich verschiedenen Ausbildungsinitiativen einen Impuls gibt, der auch mir am Herzen liegt: Als Christengemeinschaft müssen wir dafür sorgen, dass neue Priester in die Gemeinden kommen, aber in den Seminaren gibt es darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten, den priesterlichen Impuls auszubilden, den jeder Mensch in sich erleben kann: Dem Christus da zu dienen, wohin ihn das Schicksal gestellt hat – im Beruf, im sozialen Umfeld – unabhängig davon, ob sie oder er tatsächlich Priester der Christengemeinschaft wird. Dass in unseren Seminaren Wege dafür offen sind, dass Menschen das Priesterliche im Alltag ausbilden können, ist für mich ein Zukunftsimpuls. Jeder Mensch, der es will, könnte von den Seminaren der Christengemeinschaft eine Begleitung erfahren, einen Weg mitgehen, um die Welt besser machen zu können. Das ist ein Impuls, der für mich mit dem neuen Jahrhundert zu tun hat.

 

Christward Kröner | Vergangenes Wochenende war ich auf einer regionalen Tagung mit dem Thema »Wirtschaft und Christentum« in Hannover, die sich ausdrücklich als Vorbereitungsschritt auf die Dortmunder Tagung im Oktober 2022 verstanden hat. Schon seit Gründungszeiten ist der Christengemeinschaft etwas ins Stammbuch geschrieben, was wir erst nach und nach realisieren: Dass sich das Christentum erst da als wirklich erdenfruchtbar erweist, wo es letztlich auch den ganzen Bereich der Wirtschaft und des Verbundenseins aller Menschen untereinander über die Erde hin ergreift und gestaltet. Es gab in diesen Tagen eine selbstverständliche und gute Zusammenarbeit zwischen Fachleuten aus der Wirtschaft, Priestern sowie Menschen aus der Gemeinde. Das Schöne an dieser Tagung war die gemeinsame Suchgesinnung. Das habe ich als einen Anfang erlebt, und ich glaube, da ist noch viel Zukunft, dass wir uns betreffen lassen von der Weltsituation und unseren Beitrag suchen und finden, durch den wir unmittelbar konkret vor Ort auch bis in wirtschaftliche Verhältnisse hinein aus christlichen Gesichtspunkten heraus erneuernd wirksam werden können. Das ist ein ganzer Kontinent, denke ich, der da auf uns noch wartet. Es entsteht bei uns ja leicht das Gefühl: Wir sind so klein, wir können da gar nichts bewirken. Bei der Tagung wurde sehr deutlich: Initiative geht immer vom Einzelnen aus, der die Initiative ergreift. Und kleiner als der Einzelne kann es ja nicht sein. Aber der einzelne Mensch kann beginnen. Dann ist die Frage: Gibt es andere, die sich mit ihm begeistern und sich ihm zur Seite stellen. Dann kann sehr wohl etwas entstehen – Stichwort Graswurzelbewegung. Auf diesem Feld könnten wir, glaube ich, auch Entwicklungsschritte gehen.

 

UM | Der Basler Kollege Sebastian Schütze hat die Pfingstfeuer-Wanderung ins Leben gerufen, die diesen Sommer auch die Gemeinde Hamburg-Mitte erreichte. Ich wusste nicht, wem ich dieses Buch anvertrauen sollte, und habe in einem Sonntagskreis gesagt: »Wenn keiner von Ihnen die Initiative ergreift, geht das Buch an uns vorbei.« Nach dem Sommer hörte ich, dass sich zwei Menschen aus der Gemeinde mit voller Freude dieser Aktion angeschlossen haben. Das Buch wandert zur Tagung nach Dortmund, über die wir noch sprechen werden. Dies ist auch ein Beispiel für eine Bewegung, die von einem ausging und sehr viele Menschen miteinander verbunden hat. Sie hat Gemeinden auf eine tätige und poetische Weise miteinander in Beziehung gebracht.

 

Oliver Steinrueck | Bei der Vorbereitung zur Dortmunder Tagung gab es ja eine lange Suche nach der Formulierung des Tagungsthemas. Schließlich landeten wir bei der Frage: Was ist uns, auch wenn es ganz einfach ist, das Zentrale? Das führte zum eigentlichen Thema der Weihe durch die Sakramente. Die Tagung heißt jetzt »Logos« und wendet sich damit dem geistigen Wesen zu, das der Ursprung der sieben Sakramente ist. Es wird ein Wagnis sein, während der Tagung Priesterweihen zu feiern. Der Gedanke ist entstanden, damit das, was zentral ist für unsere gesamte Christengemeinschaft, in der Mitte sein kann, umgeben von der Mitgliedschaft, die bei dieser Tagung dabei sein wird. Die Erfahrung mit anderen großen Tagungen zeigt: Eine solche Begegnung ist eine geistige Tat, und darin ist etwas Wesentliches anwesend. Ich hoffe sehr, dass auch diese Tagung zu einer geistigen Tat wird, die wir in diesem Moment ergreifen, und dass ein Funke davon ausgeht in die Welt.

 

UM | Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben!