Die Begegnung Christian Morgensterns mit Rudolf Steiner - Ein Glücksfall für unsere Zeit
Das Leben Christian Morgensterns umspannt nur 42 Jahre. Sein Geburtstag fällt auf den 6. Mai 1871, der Tag seines Erdenabschieds ist der 31. März 1914. Vier Monate davor befindet sich der Dichter in Stuttgart. Rudolf Steiner hält eine Vortragsreihe über das Leben Jesu – von der Kindheit bis zur Taufe im Jordan. Zum Abschluss findet noch eine Matinee mit Gedichten von Christian Morgenstern statt. Es ist Ende November 1913. Atem und Stimme des Dichters geben es nicht mehr her, selber die Gedichte vorzutragen. Dies übernimmt Marie Steiner. In einer herzlichen Ansprache hebt Rudolf Steiner hervor, wie zu jeder »Dichterinidividualität« unverwechselbar ein verborgenes »Heiligtum« gehöre, »ein einsamer, isolierter Ort im weiten Weltenall«. Den Zutritt dazu hat allein der Dichter. Nur ihm ist die Vollmacht gegeben, über das Dichterwort den anderen an dem eigenen Heiligtum »empfindend« teilnehmen zu lassen.
Morgenstern fühlt sich in den Worten Rudolf Steiners zutiefst verstanden und bestätigt. Auch ist er beglückt von der adäquaten Wiedergabe der Gedichte durch Marie Steiner. Im Rückblick schreibt sie: »Morgenstern schien an jenem Tage wie losgelöst von seinen Leiden. Wer sein Lächeln damals erlebt hat, wird es nicht vergessen. Das völlige Sich-Verstehen und Ineinander-Übergehen zweier großer Geister, dies schuf, allen fühlbar, eine Atmosphäre, die tragende Kraft hatte und Zukunftshoffnung ausstrahlte.« – Eine zusätzliche Komponente spielt in die Ergriffenheit Morgensterns wohl mit hinein: die vorausgegangenen Vorträge zum Leben Jesu. Der Eintritt der Christuswesenheit aus höchsten Sonnenlichtes-Reichen in die Leiblichkeit des Jesus von Nazareth erfolgt keineswegs automatisch. Vielmehr beginnt mit der Jordantaufe ein Inkarnationsprozess! »Wie eine Aura« durchsetzt die Christuswesenheit zunächst den Leib und wird während der drei Jahre immer mehr in die gesamte menschliche Leibhaftigkeit »hineingepresst«. Mehrmals spricht Steiner vom »hineinpressen«, das mit einem fortwährenden »Schmerzempfinden« einhergeht. Es ist der »Schmerz des Gottes«, der auf der Erde empfunden werden muss, um den Christusimpuls in die Erdenentwicklung hineinzuführen. Das zu begreifen, so wird in den Vorträgen betont, wird nach und nach für die Menschheit der Gegenwart immer notwendiger. »Die Christuswesenheit musste, um von Golgatha an die Erdenentwicklung fortzuführen, durch den Schmerz einziehen!« Dieser Schmerz wirkt für die Erdenentwicklung weiter – in verjüngenden Kräften! – Den tiefsten Eindruck machen diese esoterischen Offenbarungen auf Christian Morgenstern! Ist doch seine Inkarnation ein einziger Schmerzensweg, der den Dichter hellhörig für die verborgenen Christusgeheimnisse macht. Meditativ ruht seine Seele in diesen Inhalten, die er so in sich belebt, dass sie sich mit Christussubstanz zu füllen beginnen und in neuer Wortschöpfung auferstehen, wie in dem folgenden Gedicht aus Morgensterns letzter Gedichtsammlung, die er Rudolf Steiner widmet, »Wir fanden einen Pfad«:
Fass es, was sich dir enthüllt!
Ahne dich hinan zur Sonne!
Ahne, welche Schöpfer-Wonne
Jedes Wesen dort erfüllt!
Komm empor dann dieser Geister
Stufen bis zur höchsten Schar!
Und dann endlich nimm ihn wahr:
Aller dieser Geister Meister!
Und dann komm mit Ihm herab!
Unter Menschen und Dämonen
komm mit Ihm, den Leib bewohnen,
Den ein Mensch Ihm fromm ergab.
Fasst ein Herz des Opfers Größe?
Misst ein Geist dies Opfer ganz?
Wie ein Gott des Himmels Glanz
Tauscht um Menschennot und -blöße.
Erst die letzten fünf Lebensjahre Morgensterns stehen im Zeichen der Anthroposophie. Keineswegs unvorbereitet begegnet ihr der Dichter, der von sich sagt: »Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr ganzes Leben nach der einstigen Heimat, ruhlos durchmisst sie das Land nach allen Seiten …« Das stimmt wortwörtlich – von Kindheit an. Bis in das ständig wechselnde geographische Hin und Her gleicht Morgensterns Biographie einer nahezu fortwährenden Reiseroute mit Stationen in Nord- und Süddeutschland, der Schweiz, Österreich, Ungarn, Norwegen und Italien. Eine jahrelange Übersetzungsarbeit der Werke Henrik Ibsens ins Deutsche bringt, zwecks Fühlungnahme mit der Sprache, einen umfangreichen Aufenthalt in Norwegen mit sich. Bei aller Anstrengung ist dies für Morgenstern, der über einen besonderen Sinn für Landschaft verfügt »ein Intermezzo wie ein Stück blauer Himmel, ein besonders lichter Fleck in meinem Leben«. Doch nach einem Arztbesuch in Bergen findet dies ein betrübliches Ende durch einen »dunklen Tropfen, der mir heute in den Becher fiel«. Ein bevorstehender Ausbruch der Lungentuberkulose zwingt ihn zurück nach Berlin. Kurzzeitig bessert sich sein Zustand im Sanatorium in Schlachtensee. Dann aber muss er zur »Liege-Luft-Kur« in Davos.
Doch Morgensterns Geistesenergie ist durch nichts zu beugen. Natürlich kommt gelegentlich – wie beim alten Faust – die Sorge »durchs Schlüsselloch« herein, wenn er sich fragt: »Wie soll das weitergehen, mit diesem Leben und mit der Kunst?« Doch gerade in solchem Passionszustand geht ihm umso mehr das Rettende auf: »Wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen können.« Auch 1902 bleibt er noch in der Schweiz, am Vierwaldstätter See und im Gebirgsort Arosa. Für eine Zeit kann er wieder zurück nach Berlin, um seine schriftstellerische Tätigkeit für verschiedene namhafte Zeitschriften fortzusetzen. Doch schon 1905 holt ihn die Krankheit wiederum ein. Erneut ist Sanatoriumsaufenthalt angesagt. Es bleibt dabei. Ruhlos durchmisst sie das Land, die »Brieftaube«. Der Dichter erlebt einen Sanatoriumssommer auf der Insel Föhr – und einen Sanatoriumswinter in Birkenwerder. Parallel dazu übersetzt und überarbeitet er für eine Neuherausgabe aus dem Mittelhochdeutschen Gedichte von Walther von der Vogelweide. Und er liest Meister Eckart, Dostojewski, Jakob Böhme, wie schon Jahre davor intensiv Lagarde und Friedrich Nietzsche. Nicht nur irdisches Land durchmisst die Brieftaube – viel mehr noch erkundet sie geistiges Terrain. Und etwas Entscheidendes kommt noch in Birkenwerder hinzu: Christian Morgensterns »Durchbruch zur Freiheit«, zum Christentum – als »Frucht nahezu 25-jähriger Kontemplation«. Er liest und lebt im Johannesevangelium. Das Wort »Ich und der Vater sind eins« wird dem Dichter zum Schlüssel, der ihm Herz und Augen öffnet: Gott wird »Ich« in dem Menschen Jesus Christus. Der allwaltende, der allumfassende Vatergott – als »Ich« spricht er im Sohn! Christian Morgenstern staunt über sein eigenes erkennendes Erleben. Zugleich wird ihm blitzartig bewusst: Ein jeder Mensch findet in Christus sein eigenes »Ich«, d.h. sein wahres, sonnenhaftes Ich. Ein gewaltiger Augenblick im geistigen Werdegang des unentwegten Gottsuchers! Die Brieftaube, die da »trachtet ihr ganzes Leben nach der einstigen Heimat« – im Johannesevangelium, dem Evangelium des Wortes, weiß und fühlt sie sich nahe ihrer ewigen Heimat, ist doch »Alles« durch das Wort geworden!
Wie an die Stufen des Vorhofes zu einem Mysterientempel fühlt Morgenstern sich herangeführt. Ganz im Stillen ahnt er innere Erfüllung, ein »Fühle vor, du wirst gesunden«! Und auch von außen steht dicht der Tag bevor, an dem ihm das Leben den Menschen zuführt, der ihn versteht und dem er einmal schreiben wird: »Ich denke, wenn Dir das vierte Evangelium irgendeinmal ganz aufgegangen sein wird, dann wird Dir auch an mir nichts mehr Rätsel sein. Dann werden wir auch im Letzten kein Geheimnis mehr voreinander haben …« Dieser Mensch ist Margareta Gosebruch von Liechtenstern, die seine Frau wird. Mit ihr findet er Rudolf Steiner und die Anthroposophie, die damals noch »Theosophie« heißt. Was in Morgensterns Leben und Suchen vorausgegangen ist, erhält jetzt in ihm eine beglückende Förderung und Erweiterung, deren Goldspur ganz besonders aus seiner letzten Gedichtsammlung »Wir fanden einen Pfad« hervorleuchtet. Darin bestätigt sich einzigartig, was Christian Morgenstern über seine Begegnung mit Rudolf Steiner festhält: »Glück in medias res: Ich war sozusagen bis 4 Uhr morgens gegangen und glaubte kaum noch, dass es nun wesentlich heller für mich werden könnte. Ich sah überall das Licht Gottes hervordringen, aber … Da zeigen Sie mir mit einem Male und gerade im rechten letzten Augenblich ein 5 Uhr, 6 Uhr, 7 Uhr – einen neuen Tag!«
Lebenslang trägt Morgenstern das Ideal in sich, die Menschen zum Tage zu führen. Dieses Ideal verbindet er auch mit seinem Namen. Geht doch die Erscheinung des Morgensternes am Himmel dem Aufgang der Sonne voraus. Und so ruft bereits der junge Morgenstern seiner Mitwelt zu:
Ja von diesem Frühgestirne,
das die Morgenwandrer kennen,
fühl ich mir in Herz und Hirne
einen Funken brennen.
In der Zeitnachtnebel Brauen
lasst mich euch vom Tage künden …
Wer vom Tage künden will, der liebt die Sonne. Tatsächlich ist sie in Morgensterns Dichtung ein nirgends wegzudenkendes, immer neu wiederkehrendes Hauptmotiv, ein »cantus firmus« der Erneuerung. An Morgenstern kann man ahnen, dass es Mysterien gab, deren entscheidender Einweihungsgrad der des »Sonnenträgers« war. Diese Mysterien versinken mit der Taufe im Jordan. Derjenige geht seitdem der Menschheit voran, der von sich sagt: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt …« (Joh 8). Das heißt aber zugleich: Seit Christi Erdenwandel ist zu der »Welt« etwas hinzugekommen, was vorher nicht mit ihr verbunden war. Wir sehen es nur noch nicht. Die Zeit ist aber gekommen, in der die Seele so auf die Welt hinblicken darf, dass sie nicht nur deren Dunkel vor Augen habe, sondern vielmehr teilhaftig werde des »Lichtes der Welt« – Seines Lichtes. Eine große Hilfe zu diesem Ziel kann uns eines der zentralen »Pfad«-Gedichte sein, das schon fast ein Gebet ist:
Gib mir den Anblick deines Seins, o Welt …
Den Sinnenschein lass langsam mich
durchdringen …
So wie ein Haus sich nach und nach erhellt,
bis es des Tages Strahlen ganz
durchschwingen –
und so, wie wenn dies Haus dem Himmelsglanz
noch Dach und Wand zum Opfer könnte
bringen –
dass es zuletzt von goldner Fülle ganz
durchströmt, als wie ein Geisterbauwerk
stände,
gleich einer geistdurchleuchteten Monstranz:
So möchte auch die Starrheit meiner Wände
sich lösen, dass dein volles Sein in mein,
mein volles Sein in Dein Sein Einlass fände –
und so sich rein vereinte Sein mit Sein.
In vier Stationen gliedert sich die innere Stufenfolge des Gedichtes:
1. Die Bitte um den Anblick des höheren Seins (Evangelium)
2. Zu der Bitte kommt das Wort vom Opfer hinzu (Opferung)
3. Auf der dritten Stufe erscheint die Monstranz (Wandlung)
4. Es folgt die Vereinigung von Sein mit Sein (Kommunion)
Es sind die vier Stufen der Altar-Handlung, auf die Rudolf Steiner bei der Gründung der Christengemeinschaft aufmerksam machte.
Nach dem Tod von Christian Morgenstern am 31. März 1914 (in Meran) fügen sich wider Erwarten die Umstände so, dass Rudolf Steiner die Ansprache bei der Bestattung in Basel hält. In der Folgezeit ist es ihm möglich, die Wege, die Christian Morgensterns Seele in der geistigen Welt nimmt, in okkulter Wahrnehmung zu begleiten. Bei näherem Hinschauen ergibt sich eine erstaunliche Fülle von dezidierten Einzelschilderungen, die in Vorträgen und Ansprachen dem Dichter und seiner Geistgestalt gewidmet sind; alles in dem Zeitrahmen des ersten Todesjahres Morgensterns – von Passion 1914 bis Ostern 1915. Zunehmend geht dem Geistesforscher eine geistige Größe des Verstorbenen auf, deren außerordentliches Format im Erdenleben, als die Seele noch an die engen Fesseln des kranken Leibes gebunden war, so umfassend nicht wahrnehmbar sein konnte. Dasselbe gilt für die ungewöhnlich tiefe Christus-Verbundenheit, mit der die Gedanken der Geisteswissenschaft in seiner Seele lebten. Es war der Eintritt Morgensterns in das Reich der Verstorbenen ein festliches Ereignis, geradezu etwas »Epoche-Machendes« für diese Welten. Was im Erdenleben als mächtige Imaginationskraft unter der brüchigen Hülle des Leibes gereift war, woraus der Dichter seine Inspirationen schöpfte, entfaltete sich nach dem Tode in einem »umfassenden Tableau« wunderbar leuchtender Imaginationen. Diese gehören, wie Rudolf Steiner wörtlich sagte, »zu dem Tiefsten«, was er »in den geistigen Welten erleben durfte«. Eine wichtige geistige Führungskraft bedeutet sein Wesen den »Seelen, die in kommenden Jahrhunderten aufleben«. Vermächtnishaft ist eine der letzten Äußerungen Rudolf Steiners in der Michaelizeit 1914: »Wie ein heller aufgehender Stern wurde seine Seele beim Eintritt in die geistige Welt von all denjenigen erlebt, deren Schauen für solche Sterne schon stumpf geworden war.« Steiner spricht von den hervorragenden Geistern vergangener Jahrhunderte – etwa Fichte, Hegel, Schelling – die so viel auf Erden gerungen und so Großes hinterlassen hatten, aber im Geisterland mit dem nicht weiterkamen, was Antwort gibt auf die bedeutungsvolle Frage in der Geisteswelt: »Was ist der Mensch? Was ist der Mensch im ganzen kosmischen Zusammenhang? Und da tritt herauf die Seele Morgensterns und gibt Antwort durch das, was er ist, durch das, was er bringt, durch das, was er auf Erden schon vorbereitet hat: der Mensch, ein Menschenstern! Ein Christus-Stern« (Dornach, 7. Okt. 1914)!
Die Entelechie Morgensterns kommt im rechten Augenblick – und nicht unvorbereitet »in den Himmel«! Wie eindrücklich ruft er uns in den »Pfad«-Gedichten doch zu:
… und wer’s ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,
schafft sein selbst Durchchrister, Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
Ewiger Bund!
Sechs Monate nach seinem Tod bricht der Erste Weltkrieg aus.