Grundgütiger Himmel!

AutorIn: Stefanie Rabenschlag

Bin ich denn jetzt gestorben?«, rief Elfriede. Ein merkwürdiges Dunkel lag um sie, und zugleich war sie sicher, dass es Zeit war aufzustehen. Sie wischte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und stieß sich dabei die Hand. Woran nur, fragte sie sich. Das kleine Nachtschränkchen war kaum höher als ihr Bett, das konnte es nicht sein. Irgendwie war auch die Luft im Zimmer so anders. Luft? Sie lauschte nach innen auf ihren Atem. Hörte nichts. Wollte ihn anhalten, doch das ging nicht. Als sei es nicht mehr ihrer. Ein zweites Mal versuchte sie, die Hand an ihr Haar zu bringen, da flog der Impuls davon und blieb weniger als eine Erinnerung. Warum sah sie nur nichts? Und wo war überhaupt ihre Brille? Still und reglos empfand sie ihre Hände jetzt. Waren sie gefaltet? Betete sie? Irgendwie schien alles in eine Mitte zusammenzufließen. Sie dachte an ihre Füße. Ein kleiner Hauch ihrer vielen gegangenen Schritte stieg auf, dann war auch der verschwunden. Sie trat zurück. Jetzt erst merkte sie, dass sie nicht allein war. Jemand rief etwas. Nach ihr? Der Klang wurde stärker, wurde Raum. Ein Raum aus Stimmen. Sie sah nichts. Eigentlich hörte sie auch nichts. Obwohl da ein Klang war. Als sei sie in das Innere einer riesigen Glocke gestiegen und deren vibrierender Ton umgebe sie. Der Ton war weit, endlos weit. Stimmte ein Orchester seine Instrumente in einer Kathedrale? Sie betrat den Raum, fußlos und doch wie mit einem Schritt. Nun gehörte sie hierher. Ja, dann war sie wohl jetzt wirklich gestorben. Es gab jemanden in ihr, der dabei eine Überraschung empfand. War sie nicht zu früh dran? Nein, es war unmöglich, dass sie tot war. Sie hatte doch noch zu tun! Nun, auch zu ihren Lebzeiten hatte es öfter Unmöglichkeiten gegeben, die sie zeitlich für ungeeignet hielt. Dann passte es doch. Sie wandte sich um, lauschte in das Gesumme unzähliger Töne hinein. Hyvänen aika,1 welche Sprache brauchte sie denn nun hier? Aus der Überfülle von Anwesenheit löste sich eine Gestalt. Vielleicht war es auch nur ein Klang, der plötzlich deutlicher wurde als die anderen. Elfriede jedenfalls schien es, als töne er aus dem Diffusen heraus auf sie zu. Sie vermisste plötzlich ihre Schuhe. Manchmal war es gewesen, als brauchte sie ihnen nur zu folgen, um die nächsten Schritte zu kennen. Sie wollte an sich hinunter sehen. Aber das ging nicht. Was denn konnte sie überhaupt hier tun? Wo waren ihre Hände, die verlässlich bis in die letzten Tage in die Welt eingegriffen hatten? Wie Zugvögel im Herbst sah sie die ehemals Tätigen weiterziehen. Flügelschläge hatten sie hinterlassen, leise Lebenswerke.
Der einzelne Klang, den sie gehört hatte – mit welchen Ohren? –, war immer noch da. Er schien sich ihr anzunähern, dann wieder sich abzuschwächen. Sie hätte nicht sagen können, aus welcher Richtung er genau kam. Sie empfand ihn wie um sich und in ihr zugleich. Ein Anklopfen, wo es doch gar nichts Festes gab. Das stumme und geräuschlose Auf- und Abtauchen eines Fisches, dessen Bewegung eine wellenhafte Berührung auslöste, die mal von hier, mal von da an sie stieß, so zart jedoch, dass es mehr einem Anstreicheln als einem Anstoßen gleich kam. Und dieser Fisch, den sie nicht sah und der auch kein Fisch war, dieses Mitwesen, das abwechselnd sich ihr zeigte und wieder zurückwich, offenbarte ihr plötzlich, wortlos, mundlos wie sie, seinen Namen. Nicht, dass Elfriede ihn jetzt hätte sagen können, aber sie wusste ihn, und mit dem Wissen um den Namen öffnete sich auch das dahinter liegende gelebte Leben, öffnete sich wie ein weites Fenster der Blick in die Landschaft erfahrener, erlittener Tage. Tief tauchten sie gemeinsam in diese Landschaft ein, in Höhen und Tiefen, in Dürren, in Wüsten, in Kämpfe und Leiden, in Darben und Kargheit, in Schmerz und Trauer. Und aus all diesen schroffen Spuren stieg der immer selbe Name des Wesens auf, dieser anderen sogenannten Toten, zu ihr gehörten die rissigen Linien dieser Biographie: Marija Iwanowna Putina.2 Jetzt, da aus der Berührung Begegnung geworden war, verklang die Vielfalt der sie umgebenden Töne, zog sich zurück in eine Ferne, von der sie kaum noch etwas wahrnahmen. Ein Zweiklang blieb, ihrer beider Zweiklang. Licht war um sie. Elfriede suchte zu fühlen, woher es kam, warm und golden empfand sie es, wie eine Substanz. Ohne Sprache verstand sie, dass die andere Tote, Marija, nun auch ihr, Elfriedes, zurückgelegtes Leben sehen wollte und sie gab den Blick frei in ihre Landschaft, die milder da lag, die Risse sanfter, die Tiefen getragener. Noch einmal fühlte sie den Schmerz ihrer Lebensspuren, die ihr damals im Leben gar nicht mild oder sanft oder getragen erschienen waren. Sie haderte eine Weile mit all dem unerfüllt Geglaubten, mit all dem als Unrecht Empfundenen. Die andere Tote wartete geduldig, bis Elfriede aus dem Rückblicken wieder in die Gegenwart ihres Zweiklangs treten konnte, in die goldene Wärme, die sie beide umgab. Jetzt konnte Elfriede sich ein zweites Mal und mit geweitetem Herzen dem herben Leben Marijas zuwenden und sie fühlte mit unsäglichem Brennen den Schmerz der anderen, den Lebensschmerz, aus dem dieses russische Leben gewirkt worden war, die Seele in ein Jahrhundert gespannt wie auf eine Streckbank. Ein nahezu ewiger Winter gegenüber linden Maitagen, als die sie in der Gegenüberstellung nun ihr eigenes Leben sah. Sie würde der anderen Toten gerne gesagt haben, dass sie sich im Vergleichen ihrer beider Leben schämte über ihr Jammern. Die andere wusste bereits. Überhaupt befanden beide sich in einem fließenden Wissen, das lemniskatisch den Bedarf der einen der anderen zuführte und in dieser einander umspielenden Geste sie stillte. Jede Dürftigkeit hob sich dadurch auf, war wie erlöst. »Wowa! Wowa! Wolodia!« Wen rief sie? »Wowa! Wolodia!« Der Sohn! Elfriede verstand jetzt. Sie hatte drei Söhne gesehen im Blick auf Marijas Leben, zwei wie einen flüchtigen Moment nur. Der dritte jedoch wollte sich mit unerbittlicher und harter Hand in die Geschichte einschreiben. In seinem Kopf trug er diesen Plan von Macht und Herrschaft seines Landes, von Tilgung vermeintlicher Unrechte. Und diesen Plan setzte er willkürlich und wütend in Taten des Grauens um. Elfriede fühlte das Herz der anderen, fühlte ihren nahezu schreienden Versuch, das Herz dieses Sohnes zu erreichen, sie erfasste wie die andere den Appell an ihn, der wie aus der Zeit nach rückwärts gefallen nichts wusste, als sich veralteter Mittel zu bedienen, um das, was er für sein Reich hielt, zu verteidigen. Auf Erden würde Elfriede nicht gewusst haben, ob sie sich der Ungeheuerlichkeit von Marijas Bitte anschließen konnte, die sie erst nach und nach an sich heranließ und verstand. Nach einer Zeit des heftigen Ringens und mit dem Blick und der Hoffnung auf das unvergängliche Menschsein auch dieses Menschen stimmte Elfriede Marijas Bitte zu, deren wütenden Sohn mit aufzunehmen in das, was vorher Gebet genannt worden war, was nun dieses goldene Licht war, das herauffloss aus den Schrunden und dem Gefaltetsein der Hände. So einwilligend vernahm sie nun auch das Wort, in das Marija ihren Sohn einbetten wollte: »оброта – Güte. Wir beten um Güte für ihn.«    

1  Finnisch: Ach, du liebe Güte!

2  Marija ­Iwanowna Putina, geb. ­Schelomowa, 1911 – 1998, Mutter von Wladimir Wladimirowitsch Putin