Wandern – nicht nur des Müllers Lust

AutorIn: Karl Schultz

Wir wollen »des Müllers Lust« nicht kleinreden! Mit vier Assoziationen möchte ich das Thema ansprechen:
1. Eine Kindheitserinnerung
2. Ein Freizeit-Impuls
3. Eine Bewegung und
4. Eine Urgebärde.

1. Eine Kindheitserinnerung: »Sonntag machen wir einen ausgiebigen Spaziergang«, mit dieser Ankündigung wurde bei mir nicht Vorfreude, sondern eher Frust ausgelöst. Endlose und stundenlange Spaziergänge in der »griesen Gegend«, so nannte man die karge Naturlandschaft in Südwest-Mecklenburg, waren nicht meine Sache. Die Gespräche meiner Eltern mit anderen Erwachsenen interessierten mich wenig, ich kam vor Langeweile fast um. Ganz anders natürlich, wenn wir zu zweit oder zu dritt auf eigene Faust die Gegend erforschten und die vorgestanzten Pfade verließen – das hatte dann immer einen Anflug von Abenteuer.

2. Ein Freizeit-Impuls: Karl Carstens (CDU) war von 1979 – 1984 der fünfte Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Seine legendären Wanderungen durch die Bundesrepublik bleiben als Merkmal seiner Präsidentschaft in Erinnerung, er stiftete die Eichendorff-Plakette für Wandervereine. Aber sprach er mit seinen Wanderungen die Jugend an? Es waren doch für viele aus meiner Generation die »Null-Bock« Jahre. Technischer Fortschritt, die eigene Karriere oder allenfalls Diskotheken waren angesagt, Blue-Jeans und Miniröcke, aber keine Spaziergänge in Knickerbocker und mit Wanderstab.

3. Eine Bewegung: Ich gehe noch einen weiteren Schritt in der Geschichte zurück. Vor 100 Jahren wurde die Christengemeinschaft gegründet und zehn Jahre später die Evangelische Michaelsbruderschaft – zwei Gemeinschaften zur religiösen Erneuerung oder zur Erneuerung des Menschen. Viele aus der Gründergeneration kamen aus der Jugendbewegung, der sogenannten Wandervogelbewegung. Dazu muss und kann viel gesagt werden, ich beschränke mich nur auf ein paar Merkmale. Es ging der damaligen Jugendbewegung um einen Aufbruch, um einen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen. Viele kamen aus der deutschen Bildungsbürgertum-Gesellschaft. Einer der Ausgangspunkte der Jugendbewegung war der jugendliche Protest gegen die Alleinherrschaft und Alleinwertung des Intellekts in der Schule, gegen die Intellektualisierung der ganzen Bildung und gegen pathetisch vorgetragene Ideale ohne Deckung in der menschlichen Wirklichkeit. Es ging um die Einheit und Ganzheit des Menschen. Niemand konnte in einer Wandervogelgruppe dadurch imponieren, dass er gescheit war, viel wusste oder besondere berufliche Leistungen und Erfolge aufzuweisen hatte. Es ging um Gemeinschaft und Kameradschaft und um ein eben unkonventionelles Miteinander, alles andere war unwichtig. Als Merkmal, an dem die Menschen, die durch die Jugendbewegung hindurchgegangen und von ihr geprägt sind, sich gegenseitig erkennen, nenne ich die unbefangene Offenheit für den anderen in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch. In diesem Zusammenhang darf wohl auch Erwähnung finden, dass der menschliche Leib fröhliche Urständ feierte. Ja, der Leib des Menschen in seiner wesenhaften Bedeutung für den ganzen Menschen wurde sozusagen neu entdeckt; die Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz wurde neu gewertet gegenüber einer pseudo-christlichen Entwertung alles leiblichen Lebens. Ein anderes Merkmal dieser Bewegung war ihr Verhältnis zur Natur, nämlich eine intensive persönliche und verbindliche Beziehung. Romano Guardini hat in seiner Schrift über das Ende der Neuzeit den »nachneuzeitlichen Menschen« unter anderem beschrieben als einen solchen, der kein persönliches Verhältnis zur Natur habe. Der Wandervogel war eine Flucht aus der Stadt in die Natur. All diese Impulse habe ich in meiner aktiv gestalteten Jugendarbeit in den 1990er Jahren aufgenommen und sie leuchten heute wieder im Jugendprotest »Fridays for Future« auf.

4. Eine Urgebärde: Unser ganzes Leben ist eine Wanderung, eine Pilgerfahrt, eine Wallfahrt. Der Mensch macht sich immer wieder auf den Weg: er sucht nach dem Größeren. Weil eine so tiefe Wahrheit in der menschlichen Urgebärde des Suchens und des Unterwegsseins steckt, darum hat Israel den Auftrag zur Wallfahrt in Gottes offenbartem Gesetz als seinen Willen neu und in neuer Auslegung empfangen. An der Schwelle zum Heiligen Land nach den vierzig Jahren der Wüstenwanderung wurde ihm gesagt: Auch zuhause sollt ihr ein Volk von Wandernden bleiben. Dreimal im Jahr sollt ihr nach Jerusalem gehen, gleichsam immerfort unterwegs aus dem Alltag ins Andere, in die Gemeinschaft mit Gott und miteinander, und aus diesem Größeren wieder in den Alltag. Wanderer sollt ihr bleiben, Menschen unterwegs, die wissen, dass wir immer noch die endgültige Stadt suchen (vgl. Hebr 13,14). Wallfahrt muss mehr sein als Tourismus. Denn wenn wir nur überall den gleichen Konsum und denselben Lebensstil möchten, dann können wir so weit herumfahren in der Welt wie wir wollen, wir bleiben immer bei uns. Das Ziel der Wallfahrt ist letztlich nicht eine Sehenswürdigkeit, sondern das Aufbrechen hin zum lebendigen Gott.

Wandern – nicht nur des Müllers Lust: Diese vier Assoziationen waren ein Versuch, unseren Lebensweg als Wanderung zu begreifen, als Pilgerfahrt, die uns immer wieder aufbrechen lässt. »Weg wird Weg im Gehen« meint ja innere und äußere, geistige und physische Wege. Ich wünsche uns allen gute Weg-Erfahrungen.