Mensch sein, damit das Göttliche auf Erden anwesend sein kann

AutorIn: Georg Dreißig

Von der Weihesubstanz, die die Gemeinde spendet

Christi Gegenwart erfühlen

In einem vorangehenden Beitrag habe ich versucht darzustellen, wie das kultische Wort zum wirksamen Bild, ja zum wirkenden Wesen werden kann – eine Anforderung an die Aufmerksamkeit und Tätigkeit all derjenigen, die gemeinsam den Kultus feiern.1 Dies herbeizuführen, darf nicht Aufgabe der Kirche allein bleiben, sondern soll in die Verantwortung aller Menschen gegeben werden, damit, was im Kultus als Segen erlebt werden kann, immer kräftiger auch ins Leben hinausströmen möge, in die Welt, ins Profane. Menschen sollen bis ins Alltägliche hinein immer bewusster religiös Handelnde werden, indem ihr Bewusstsein für die Gegenwart des Geistigen immer wacher und aufmerksamer und empfangsbereiter wird. Es genügt nicht, vom Geist zu wissen, wir müssen uns auch für seine Anwesenheit wach machen, um ihn spüren und seine Ziele aufnehmen zu können. Die Himmel wollen uns erregen und unser Menschsein erfüllen und durch uns überströmen ins Leben, in die Welt.

Wie konkret das gemeint ist, kommt in den Sakramenten der Christengemeinschaft immer und immer wieder zum Ausdruck. Doch es bleibt jedes Mal offen, ob darauf auch der wichtige, entscheidende Schritt folgen wird, der Schritt, das, was als kultisches Wort und Bild und Tat erlebt worden ist, als Lebensimpuls in die eigene Seele aufzunehmen und auch sein tägliches Menschsein damit zu durchströmen. Ein Wort aus der Priesterweihe, das letzte Weihewort, das an den Kandidaten gerichtet wird, können wir als Ausdruck dafür verstehen, was mit Weihe letztlich gemeint ist. Da wird davon gesprochen, dass Christus den Geweihten auf all seinen Wegen begleitet – »wohin du gehst« –, und dies wird ergänzt mit der Mahnung: »Fühle stets seine Gegenwart, vollbringe nichts ohne dieses Fühlen!«

Das wichtigste Geheimnis Christi, sein offenbares, ist seine Gegenwart. Das griechische Wort Parousia, das eigentlich Gegenwart bedeutet, wird in der Übersetzung des Neuen Testaments mit Wiederkunft übersetzt. Der, der immer da ist, immer gegenwärtig, wird als der Wiederkommende erlebt, indem wir seine Gegenwart auch fühlen. Ihn erfühlend durchatmen wir uns mit seinem Wesen – und dies gilt, wo immer wir sind. Das sprechen wir aus, wenn wir Du zu ihm sagen, was immer bedeutet: Du – hier und jetzt.

Rudolf Steiner sagt von dieser Situation lapidar: »Der Christus selber ist heruntergestiegen aus übersinnlichen Gebieten in das Erdengebiet und macht den Prozess der Erdenentwicklung seit dem Mysterium von Golgatha mit … Man braucht ihn nicht zu finden durch irgendeine Institution, die nur der Vermittler sein kann, man muss ihn finden durch dasjenige, was infolge der Institution an einem selber geschieht. Man kann ihn finden zu jeder Zeit, an jedem Ort seit dem Mysterium von Golgatha, und eine Kirche kann die Vermittlerin allein sein. Sie selber wird, wenn sie als Kirche auftritt, sich gerade dadurch heiligen, dass sie ihre Gläubigen heiligt.«2

Nicht nur der Priesterkandidat, alle kultisch Handelnden sind aufgerufen, diese Gegenwart zu fühlen, und zwar nicht nur vor dem Altar, sondern wohin sie auch gehen mögen – zu jeder Zeit, an jedem Ort –, und am Erfühlen dieser Gegenwart zu ermessen, ob ihr eigenes Vollbringen ihrem und dem Wesen dessen entspricht, der jedes Mal zuverlässig wiederkommt. Die göttliche Welt sehnt sich danach, hofft darauf, drängt dazu, anwesend zu sein in unserer Gegenwart. Auf dieses Grundsätzliche weist Rudolf Steiner mit den Worten hin, »dass in einer Erde, auf der der Mensch anwesend sein soll, durch den Menschen auch das Göttliche wirklich anwesend ist«.3 Das Erscheinen des Göttlichen im Menschen und durch den Menschen auf der Erde ist der Sinn des Menschseins, den nur wir selbst erfüllen können, indem wir versuchen, uns mit göttlichem Wesen zu erfüllen.

 

Der Anteil der Gemeinde am Vollzug der Priesterweihe

Im Hinblick auf die Priesterweihe sei dieses mehr Allgemeine, Grundsätzliche nun um ein sehr Konkretes ergänzt. Es handelt sich nicht darum, dass die Menschen das, was bisher die Kirche getan hat, einfach kopieren sollen, sondern sie sind aufgerufen, noch etwas Neues, Grundlegendes auch in die sakramentalen Vollzüge einzubringen.

Im Verlauf der Priesterweihe selbst folgt, nachdem die Weihetaten an und mit den Kandidaten vollzogen worden sind, die in die bereits zitierten Worte vom Erfühlen der Gegenwart Christi münden, eine Hinwendung zu der mitfeiernden Gemeinde, und es wird darin deutlich, welch entscheidende Bedeutung ihre Anwesenheit für den Weihevollzug hat. Es wird darauf hingewiesen, dass derjenige, der von Seiten der geistigen Welt als Priester anerkannt worden ist, auch von Seiten der Gemeinde als Priester anerkannt werden muss, um Priester sein zu können. Die Anerkennung durch die geistige Welt ist Teil der Substanz, die zum Priestertum weiht; die Anerkennung durch die Gemeinde ist ebenfalls Teil der Substanz, die zum Priestertum weiht.

Dass zum Anerkennen im Weiteren auch das helfende Verfolgen der Taten des Geweihten hinzutreten muss, damit sein Wirken fruchtbar sein kann, wird in einer abschließenden Ermahnung an den Priesterkreis und alle in der Gemeinde, die sich davon angesprochen fühlen, noch ergänzt. In diesen Worten wird deutlich, dass der Weihevollzug mit dem Feiern des Sa­kra­mentes der Priesterweihe nicht vollendet ist, sondern in die Zukunft hinein fortströmt.

Das wirft die Frage auf: Wie lange hält ein Weihevollzug eigentlich vor? Genügt die eine Priesterweihe, die man in seinem Priesterwerden erfährt, um fortwährend geweiht zu sein? Wir haben ja das Pendant der Menschen-Weihe, der Handlung, in deren Vollzug die Priesterweihe eingeflochten ist. Wir vollziehen sie täglich; wir erfrischen die Weihe zum Menschen immer wieder, beleben sie neu. Dasselbe gilt auch für den Priester. Auch seine Weihe wird jedes Mal erfrischt, wenn er die Menschenweihehandlung zelebriert. Und auch für diesen Vollzug gilt, dass ihm die Weihesubstanz nicht aus der göttlichen Welt allein gespendet wird, sondern auch aus der mitfeiernden Gemeinde. Da ist der Zele­brant, der sich immer wieder der Gemeinde zuwendet und die Worte, die er dabei spricht, bringen zum Ausdruck, was er wahrnimmt, wenn er auf die Gemeinde schaut: »Christus in euch.« Sie sind Ausdruck für die Gegenwart Christi in der Gemeinde. Der Ministrant erwidert darauf: »Und deinen Geist erfülle er!« – und spendet damit die Weihesubstanz, erregt den Christusstrom, der das Geweihtsein des Zelebranten von Gemeindeseite aus täglich erfrischt. Wie die ersten Menschenweihehandlungen, die gefeiert wurden, Priesterweihen waren, so ist jede Menschenweihehandlung eine Priesterweihe auch durch die Gemeinde, ausgesprochen durch den rechten Ministranten.

Wenn wir aufmerksam darauf werden, welche Weihesubstanz im Kultus zwischen den Menschen atmet, können wir fragen: Wie kann der Atem des Sakraments weihespendend auch unsere alltäglichen Begegnungen durchatmen? Welche Bedeutung haben unsere Worte, unsere Taten an der Weihe zum Menschen, die ein Mitmensch empfängt oder vermisst, wenn wir ihm nicht in der Kirche, sondern auf der Straße begegnen? Der, der vor dem Altar spricht, ist ja derselbe, der sich auch im Leben äußert, und was für den Kultus gilt, das gilt für unser Menschsein insgesamt und unsere Beziehung zu Christi Gegenwart »zu jeder Zeit, an jedem Ort«.

 

1  Die Christen­gemeinschaft, Heft 9-2022

2  Gemeint ist nicht, dass allein die Kirche Vermittlerin sein kann, sondern dass die Kirche nur eine Vermittlerin sein kann. – Rudolf Steiner: Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, Dornach, 4.10.1921 nachmittags, GA 343.

3  Ebd. 5.10.1921 vormittags.