Geburt des Immanuel | Die Initiale des Meisters Bertold zum Matthäusevangelium

AutorIn:  Jürgen Franck

Es ist Heiligabend. In einem Heim für e­r­ziehungsgestörte Kinder herrscht große Aufregung. Die Stunde der Bescherung ist herangerückt, der seligste Augenblick im ganzen Jahr. Jedes Kind hat von seinen Eltern ein Paket aus der Ferne erhalten, um es jetzt selber auszupacken. So auch ein Junge, dem vor Aufregung die Hände zittern. An alles haben die Eltern gedacht, er kann’s kaum fassen. Doch plötzlich, was ist mit ihm? Einen Moment stocken seine flinken Hände, um gleich wieder mit Ungeduld weiterzumachen. Immer hastiger sucht und ­stöbert er nach etwas – und kann es nicht finden. Wie hungert sein Herz nach diesem einen Etwas! Doch die Eltern, sie haben es versäumt – dieses Eine: ein Wort! Ein Wort, das zu Herzen geht. Ein Wort der Liebe! Ohne dieses ist nicht Weihnachten.
Das war von Anfang an so. Erst mit dem Wort des Engels beginnt dieses Fest: »Siehe, ich verkündige euch große Freude« (Lk 2). Allein durch den Mund der Engel wird Weihnachten auf Erden inauguriert. Das gilt nicht nur für den Bericht des Lukas. Genauso hat es Gültigkeit bei Matthäus (Mt 1). Auch hier ist der entscheidende Augenblick das Wort aus Engelmund. Nur geschieht das in tiefster Verborgenheit – im Traum des Joseph in der heiligen Nacht. Sein Bewusstsein hatte sich durch die Unerklärlichkeit der Schwangerschaft Marias getrübt. Er erwägt nun, sie »heimlich« zu verlassen. Da öffnet ihm im Traum »der Engel des Herrn« Auge und Ohr: »Joseph, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als Frau zu dir zu nehmen. Was sich in ihrem Schoße regt, ist unter dem Walten des Heiligen Geistes empfangen. Sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird die Seinen von ihren Sünden heilen. Dies alles ist geschehen, damit das Wort in Erfüllung gehe, das durch den Propheten gesprochen ist. Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären. Sein Name wird heißen Immanuel, das heißt übersetzt: Gott ist bei uns« (Mt 1, 20-23).
Dieses Geschehen greift Meister Bertold auf und gestaltet daraus die Initiale, den ersten Buchstaben »L«, mit dem das Matthäusevangelium in lateinischer Fassung beginnt: »Liber generationis Jesu Christi, filii David, filii Abraham«, zu Deutsch: »Das Buch der (leiblichen) Herkunft Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.« Als sei es dem goldenen Baum des Lebens entsprungen, so bildekräftig umgreift ein großes »L«, das oben und unten überquillt ­an wunderbar blühenden und sprießenden ­Ornamenten, die Geburt der Heiligen Nacht.
Und ganz dicht daneben steigen goldene Runen herab, in siebenfacher Folge, zwei und zwei ­ge­ordnet. Mit dem »L« zusammen entstehen ­daraus die beiden ersten Worte bei Matthäus: Liber generationis. Die Zwei und die Sieben sind dem Evangelisten wichtig. 7×2 ergibt 14, d. h. die heilige Zahl, nach der sich der Stammbaum von Abraham bis Jesus in der Folge von dreimal 14 Entwicklungsrunden entfaltet, gewissermaßen nach Leib (Abraham), Seele (David) und Geist (Prophetentum, besonders in der babylonischen Zeit). Auf Erden werden die Genera­tionen geboren. Von den Himmelshöhen her aber walten und wirken die heiligen Sternen­gesetze und -kräfte, so dass auf Erden schließlich Jesus ge­boren wird, der dann der Christus ist. Abraham war von Gott ausersehen, den Grund dafür zu legen. Er war ein hoher Ein­geweihter in die Sternengesetze und ihren Zusammenhang mit der Menschheit. So ward er in heiliger Nacht aufgefordert: »Tritt hinaus! Schau zum Himmel und zähle die Sterne!« Nicht ­zählen im nume­rischen Sinne ist gemeint. Vielmehr: So, nach Sternengesetzen geordnet, soll das Volk sein, aus dem der Heilbringer geboren wird. »In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden« ­(1 Mose 12,3)
Die Darstellung der Geburt des Immanuel gliedert sich in eine untere physische und eine obere geistige Bildhälfte, die über dem liegenden Kind beginnt. Unten hat Maria ihren Platz auf dem grünen Liegesitz, im Innenwinkel des »L«. Sie blickt ernst und – wie die Gebärde der linken Hand anzeigt – in flehender Aufmerksamkeit zu Joseph hinüber, der höher sitzt. Wie man seinen locker hängenden Füßen anmerkt, war er eben noch halb auf dem Sprung, die Szene verlassen zu wollen. Aber mit seinem Haupt ragt er bereits wie aus Träumen erwachend aufmerksam in die Geistespräsenz des Engels hinter ihm. Dessen goldener Stab mit dem Liliensymbol weist ihn als »Engel des Herrn«, das heißt als Erzengel aus. Mit der Linken hält er den bis
in Himmelshöhen hinaufragenden Stab. Die Rechte ist in Brusthöhe frontal geöffnet, wie den Raum über Josephs Haupt mit schützender Kraft füllend.
Denn diagonal von links oben – Hals über Kopf hereinstürzend – macht sich ein verführerischer »Diabolos« mit unverschämter Aufdringlichkeit an den frommen und gerechten Joseph heran. Unglaublich! Aber das will Diabolos-
Luzifer: ­alles durcheinanderbringen. Heißt doch das grie­chische Verb »diaballein« wörtlich »durcheinanderwerfen«. Aber Wort und Ge­bärde des Engels, der mit einem Seitenblick die Gefahr überschaut, bannen das Ansinnen des Verführers. Am liebsten würde sich dieser an dem Kind, das erhöht zwischen Maria und­ ­Joseph liegt, vergreifen. Doch das geht nicht: Das Kind liegt zwar ­physisch-leibhaftig da, doch der Diabolos kann nichts ausrichten. Er hat selber keine physisch-leibhaftige Wirklichkeit! ­Erschrocken und gefasst zugleich dreht das Kind die Augen zur goldleuchtenden Aura der Maria hin, die umso intensiver ihren Blick zu Joseph lenkt. Dank­barkeit beginnt in ihr zu erwachen. Den Engel fühlt sie nahe seit der Verkündigung, von der nun auch Joseph im Traum auf seine Weise erfährt. Dadurch knüpft sich ein überpersönliches Vertrauensband zwischen Maria und Joseph, das der Widersacher mit unglaublicher Ziel­sicherheit zertrennen will. Man kann erschrecken, wie auf dem Bild das diagonale Herein­fahren des Diabolos nicht etwa nur bis zur ­Mitte des Bildes, d. h. bis
zur Lagerstatt des Kindes gewollt war, sondern ­weiterwirken sollte ­in der Fortsetzung dieser Diagonale bis in die absprungbereiten Fußspitzen des Josephs.
Man könnte direkt von einer »Diabolos-­Diagonale« sprechen. Ihr steht aber auch – entgegengesetzt – eine verborgene »Engel-Diagonale« vom Engel rechts oben bis zu Maria links unten gegenüber. Durch die gegenseitige Entsprechung der rechten Handgebärde des Engels und der ­linken der Maria, was wie ein Geben und Empfangen anmutet, verstärkt sich der Eindruck der Engeldiagonale. Der erwachende Joseph, dem noch das klanggewaltige »…Immanuel« am Schluss der Engelpredigt in den Ohren klingt (das vielleicht auch in den hochgestreckten ­Ohren des Bruders Esel positiven Widerhall ­findet?), er geht als ein Neugeborener aus der Weihnacht hervor – durch das Licht und die Kraft des Weihnachtswortes! –
Vermutlich ist dieses durchaus auch im ­Sinne der Gestalt ganz links im Bild. Mit wacher Aufmerksamkeit der Augen und Hingabe des Herzens verfolgt diese die ganze Szene, als sei das Geschehen ein Teil von ihr selbst. Wer verbirgt sich in dieser Gestalt? Einerseits ist sie ­Engel. Andererseits offenbart das Antlitz edelste menschliche Züge. In der linken Hand hält sie einen metallenen Gegenstand. Einen Schlüssel? Den »Schlüssel Davids«? Gerade in diesem Weih­nachtskapitel spielt der Name David eine herausragende Rolle, z. B. in der Anrede: »Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht …« oder in der Erläuterung: »Das Buch der Herkunft Jesu Christ, des Sohnes Davids«. Gibt es so etwas wie einen »schlüssigen« Bezug hinsichtlich »David« und »Schlüssel«? Die Apokalypse spricht von dem »Schlüssel Davids, der auftut und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf« (Offb 3,7).
Unter den vier Evangelisten wird einem das Doppelsymbol »Mensch und Engel« zugeordnet: Matthäus! Er ist der letzte Jünger, den Christus in den Kreis der Zwölf aufgenommen hat. Etwa 20 Jahre vor Christus geboren, hieß er zunächst Levi und war jüdischer Priester. Als Christus ihn zum Jünger berief, saß er im Zollhaus in der Nähe von Kapernaum, am Ufer des Sees Genezareth. Nur Christus erkannte die innere Reife dieses Menschen, der durch Stufen eines Werdens geführt worden war, wie sie in der Zeit vor dem Erscheinen Christi nur die Schüler in den Mysterien durchschritten hatten. Für Matthäus ist der Mensch das größte göttliche Geheimnis bis in alle Ewigkeit. Nur in seinem Evangelium kommt in dem ersten Kapitel – zur Weihnacht – der Name »Immanuel« vor. Er ist ein Mantram: »Bei uns ist Gott«. Der Name des durchgöttlichten Menschen!
Im Evangelium zur Weihnachtsmitternacht werden wir mit dem »Bei uns ist Gott« bekannt gemacht. Für die heiligen drei Könige (Mt 2) ist dieser das Ziel, dem sie Gold, Weihrauch und Myrrhe darbringen. Am Ende des Matthäus­evangeliums ist aus dem »Gott ist bei uns« geworden: »Ich bin bei euch«. Da ist der Immanuel der Auferstandene geworden, der für alle Erden­zeiten zu den Jüngern spricht: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Erdenzeiten.« »Alle Tage« ist Christus die Mitte der Welt, er, der ohne Krankheit ausgegangen ist von dem ­Vatergott. Unendlich ist das Wort-Geschenk der Weihnacht.