Ursprungsloyalitäten. Vom Zauber des ersten Moments

AutorIn: Alexander Capistran

Meine Mutter war Sängerin und sang häufig bei Gottesdiensten in den Kirchen mei­ner Heimatstadt Potsdam. Die Potsdamer Nikolaikirche ist eine überdimensionierte protestantische Kirche, die Ähnlichkeit mit dem Petersdom in Rom aufweisen soll. Mit der protestantischen Schmucklosigkeit hatte man es in ihrem Inneren übertrieben. Grau, leer und kalt erschien mir das Kirchenschiff. An der linken Seite gab es einen länglichen Raum hinter Glas, wo Kinder wie ich Beschäftigung finden sollten. Dieser war aber auch nicht gerade einladend und umfasste nur einige überkommene Spielsachen. Das Sonderbare an diesem ganzen Ensemble war aber nicht der Kirchenraum, sondern was in ihm geschah. Der Pfarrer leitete durch den Gottesdienst, es wurde gesungen, es wurde gepredigt, es wurde gefröstelt und mit der Kollekte geklimpert. Draußen war eine andere Welt. Die Markthalle war von Händlern übersät, in Restaurants füllten sich die Mägen, die Brandenburger Straße zog sich als Hauptschlagader durch den Stadtkörper. Alles war sichtbar, materialistisch-hedonistisch, funktionierte ausschließlich nach Ursache und Wirkung. In der Kirche hingegen hatte ich ein Urerlebnis, das Erlebnis, dass hier etwas stattfand, das nicht in die Welt da draußen passte, ganz und gar nicht. Ich konnte nicht verstehen, wie Menschen, die eben noch in einer Welt der säkularen Sichtbarkeit lebten, auf einmal an einen Mensch ge­wordenen Gott glauben wollten, der – schon lange abwesend – in diesen Räumen wieder zur Präsenz gebracht werden sollte. Diesen Bruch zwischen der materialistischen Alltagserfahrung und dem mythischen Religiösen konnte ich als Kind überdeutlich spüren. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich den Leuten in der Kirche –  einschließlich des Pfarrers – ihre reli­giöse Ergriffenheit schlichtweg nicht abnahm und selbst für eine andere Form des Religiösen empfänglicher war. Mich überkamen religiöse Einheitserlebnisse beim Aufsuchen bestimmter Naturstellen, an historisch wichtigen Orten, auf Friedhöfen, beim Hören besonderer Musik, ja sogar beim Blick auf den großen Stadtplan von Potsdam und Umland. Die Qualität, die von solchen Dingen und Orten auf mich ­ausstrahlte, vermisste ich in der Kirche, und ich bin mir ­sicher, dass ich es atmosphärisch gespürt hätte, wenn sie bei den anderen Menschen in intensiver Weise da gewesen wäre. Mich erschreckte die Äußerlichkeit des Glaubens, die bürgerlich institutioneller Natur war und wenig Innerlichkeit erkennen ließ. Wie sehr man eine äußere Form und Fassade aufrechterhalten konnte, wo es doch eigentlich um etwas Inneres gehen sollte, war der ­eigentliche Punkt meines Erstaunens. Nur in der mir näheren Potsdamer Erlöserkirche spät an Heiligabend blitzte die oben vermisste Qualität auf, der Hauch des Besonderen, der Innigkeit und Festlichkeit. Sein Abglanz war in der Weihnachtsnacht, selbst unter sattgegessenen Atheisten, anwesend. Die Krise der institutionalisierten Religion inmitten des modernen Lebens war aber eine Erkenntnis, die für mich Gültigkeit behielt. Sie war eine Urerfahrung, der ich ob ihres Evidenzcharakters gegenüber immer loyal geblieben bin, und zu der ich erst im späteren Leben ­philosophische, gesellschaftskritische und religiöse Erklärungen finden konnte.

Die vagen, aber genauen Erkenntnisse aus Kind­heitstagen haben einen besonderen Stellenwert,  und man sollte ihnen ein Leben lang treu bleiben. Denn: In gewissem Sinne wird man im Laufe seines Lebens nicht weiser, sondern immer dümmer. Gegenläufig zum herkömmlichen Bild könnte es sein, dass der Mensch eine natürliche Gabe der ungeschmälerten Aufmerksamkeit besitzt, der puren Wahrnehmung der Welt wie sie ist, die dann im Lauf des Lebens von der oft gepriesenen Lebenserfahrung getrübt wird. Welche Weisheit liegt im ursprünglichen Erkennen, in den Momenten, in denen zum ersten Mal ­etwas klar wird, eine Ahnung dämmert?

Um diese Schönheit und Tiefe der ersten bewussten Momente soll es hier gehen. Am eigenen Leib erfuhr ich als Kind, wie bestimmte Erkenntnisse intuitiv aufleuchteten, ohne ratio­nal komplett erklärbar zu sein. Ich erinnere mich an Situationen in der Familie, beim Bücherlesen, auf Reisen oder eben in der Kirche. Immer hatte das Geschaute den Charakter einer Ahnung, einer untrüglichen Gewissheit, deren ­Bedeutung teilweise erst Jahre später bewusst wurde. Dass das philosophische Staunen bei Kin­dern in besonderer Weise lebt, wusste kein Zwei­ter besser als der Autor Jostein Gaarder. In Sofies Welt schreibt er: »Es fragt sich, ob das Kind nicht auch der größte Philosoph ist. Ein Kind hat nämlich keine vorgefasste Meinungen. … Das Kind empfindet die Welt so, wie sie ist, ohne mehr in die Dinge hineinzulegen, als es erlebt.« Diesen Wahrnehmungen sollte viel Wert bei­gemessen werden. Allerdings gilt es, aus ihnen bewusste und reflektierte Erkenntnisse werden zu lassen. Dieses Motiv finden wir bei dem Philo­sophen Gideon Spicker (1840–1912), den ich als geistigen Ombudsmann zu dieser Frage hinzuziehen möchte. Er war nicht nur Vorbild für die Figur des Doktor Strader in Rudolf Steiners Mysteriendramen, sondern zeigte in eindrucksvoller Weise, wie Glauben und Wissen zusammenhängen und welche Rolle das kindliche Staunen dabei hat. Spicker selbst wurde auf der Bodensee-Insel Reichenau geboren und lebte als Winzersohn ein einfaches, aber profundes ­Leben. Zu seinen Urerfahrungen gehörte das ­innere Ergriffenheitsgefühl, das ihn überkam, wenn von Konstanz und Überlingen und aus der Schweiz das Glockenläuten auf die Insel schallte. Spicker nennt »die Jugendeindrücke die tiefsten und nachhaltigsten«, die wir haben können. »Diesen kostbarsten Schatz unseres Daseins« müssten wir im Laufe unseres Lebens zum Bewusstsein heben. So hat er es exem­plarisch in seinem eigenen Leben versucht und theoretisch ausgearbeitet: »Ist es nicht etwas ganz Unnatürliches, ja geradezu Unmögliches, während der kurzen Spanne eines Menschen­lebens zweierlei Weltanschauungen sich anzueignen: erstlich die religiös-christliche, sodann eine wissenschaftlich-philosophische?« fragt er in seinem autobiographischen Text Vom Kloster ins akademische Lehramt (S. 9.). Die kindliche Schau von Ideen ist für ihn der Ort des ursprünglich Religiösen, das dann – wie bei ihm auch – eine Krise des Zweifelns und eine Begegnung mit dem Nichts durchlaufen würde. »Licht und Wärme der Über­zeugung, die beiden gol­denen Fittiche, welche den Gläubigen bis dahin durchs Leben trugen, sind verschwunden, und die finstern Gewalten des Zweifels und Unglaubens bemächtigen sich seiner« (S. 10f.). Allerdings strebt Spicker danach, naiven Glauben und rationalen Zweifel in einer wissenschaftlich-vernünftigen Form zu versöhnen. Es sei unbedingt notwendig, »die geoffenbarten ­Wahrheiten zu Vernunftwahrheiten zu erheben« (S.10), wie schon seinerzeit Lessing ge­fordert habe. »Denn der Verstand kann nur denken, aber nicht fühlen, während gerade dieses Vermögen den eigentlichen Pulsschlag bildet, der den ganzen ­geistigen Organismus durchdringt.« (S. 14). Die Religion dürfe sich dem aber nicht verschließen, sondern müsse sich quasi zum Verstand und zur Wissenschaft hin öffnen. Sie müsste »derart beschaffen sein, dass alle Fortschritte der Wissenschaft nur zur Erweiterung und Verstärkung dieser Grundlage dienten.«
Im Ergebnis bekommen wir laut Spickers ­Ideal »eine Religion in philosophischer Form auf ­naturwissenschaftlicher Grundlage« (S. 15). Wir sehen also: wahrscheinlich gehören kindlich-­naive Purheit und lebensgesottene Weis­heit letztlich zusammen. Nur beide zusammen sind in der Lage, eine wirklich tiefe Einheit zu bilden.
Es treffe sich gut, so der Philosoph, dass Men­schen im Alter sowieso eine Affinität zum Übersinnlichen aufwiesen. So gesehen steht in Spickers Biographiehygiene das gefühlswarme Staunen in der Jugend an, um dann im Alter dem vernünftigen Nachdenken mit kindlicher Note zu weichen.
Er selbst berichtet in seiner Biographie von dem Moment, in dem er zum ersten Mal den Kölner Dom erblickte und ihn in seiner Gestalt purer wahrzunehmen in der Lage war als in späteren Zeiten. Gleiches kann man, wenn der Wind günstig steht, in unzähligen Situationen selbst erleben. Nicht nur den tiefen Frieden des Waldes, den ich um unser Wochenendhaus in Fichtenwalde bei Berlin zum ersten Mal spüren konnte, sondern auch Menschen und sogar Gedanken ­unterliegen dem Zauber des ersten Moments. Die Kunst besteht freilich immer darin, nicht ein ­vorgefasstes Bild zu reproduzieren, sondern sich auch von dem ersten Moment an fortwährend überraschen zu lassen. Gerade bei der Begegnung mit Menschen ist dies entscheidend. Begegne ich ­jemanden zum ersten Mal, kann ich mit etwas Übung Urbildhaftes an der Person erleben, aber es kommt darauf an, diese Ahnung mit der le­bendigen Wirklichkeit dieses Menschen zu kon­trastieren und zu verfeinern. Gegenüber den ersten Eindrücken sollte man aber, wie oben bereits erwähnt, loyal bleiben, sie nicht wegzuerklären versuchen. Auch im Gedanklichen sind diese Ursprungsloyalitäten fruchtbar. Ich erinnere mich genau, wie und wo ich bestimmter Gedanken zum ersten Mal inne wurde: ­Cusanus’ Einfaltungs- und Ausfaltungsidee, Kants Konzeption des Schönen und Erhabenen, Walter Benjamins Aura-Begriff. Die Kraft dieser verdichteten Konzepte wird durch den Moment
der ersten gedanklichen Begegnung mit ihnen potenziert und ein Leben lang ausgeformt. Vielleicht geht es Künstlern ähnlich. Und auch Menschen, die an sozialen Plastiken mitbauen. Sie alle zehren von der Loyalität mit dem ersten wirklich erlebten Moment, diesem existenziellen Nukleus, dieser ersten Schau, der Evidenz des ersten Augenblicks, die eine existenzielle Unbestechlichkeit mit sich bringt.
Diesen ersten Moment für immer wachzuhal­ten, zu pflegen und mit ihm in ein Zwiegespräch zu gehen, darauf kommt es an. Darin liegt auch eine Aufgabe, denn: Der Weise kann die Kindlichkeit der Erkenntnis bewahren, dem Neuge­bo­renen wird sie nur durch Gnade zuteil.     

Alexander ­Capistran, geboren 1990, Philosoph und Organisationsentwickler, Bodenseekreis