Bedingungen ärztlicher Sorgfaltskultur | Schicksalsverantwortung im Gesundheitswesen

AutorIn: Ulrich Meier im Gespräch mit Dr. Johannes Klemm

Ulrich Meier | Was ich heute gerne mit Ihnen besprechen möchte, ist die Frage: Wie gehen Sie als Arzt mit der Verantwortung um, dass Sie Teil des Schicksals der Menschen werden, denen Sie helfen, denen Sie dienen?

Dr. Johannes Klemm | Aus meiner Sicht können durchaus Ärzte als Diener des Schicksals und damit auch des Göttlichen gesehen werden. Diese Betrachtungsweise hat Einfluss bei der Diagnosefindung, dem Krankheitsverständnis und natürlich bei der Therapie. Ich verstehe den Arzt hier als Schicksalsdiener im Bemühen, den Patienten, der sich ihm anvertraut, zu begleiten.

Ulrich Meier | Dabei kann das Schicksalsverständnis ja sehr verschieden sein. Für mich ist ein wichtiger Aspekt des Schicksals, dass wir mit einem Bereich zu tun haben, den wir grundsätzlich nicht oder jedenfalls nicht voll überblicken, dass wir mit offenen Fragen umgehen.

Dr. Johannes Klemm | Den Schicksalsfragen stehen heute oftmals die Verabredungen entgegen, die den ärztlichen Alltag stark bestimmen. In den letzten Jahrzehnten sind ­Leitlinien für Erkrankungen formuliert worden, in denen die Aspekte der Therapiewirksamkeit der klassischen Schulmedizin bewertet wurden und in ­de­nen ­nahegelegt wird, den Patienten entsprechend zu behandeln. Das hat bei juristischen Auseinandersetzungen für den Arzt den Vorteil, dass er sich hinter dieser Leitlinie absichern und sagen kann: Ich habe versucht, diese Leit­linie komplett umzusetzen. Bei dieser Art, Medizin zu betreiben, spielt natürlich der Schicksalsbegriff gar keine Rolle, sondern da geht es um die Frage: Hat der Arzt die bestmögliche Therapie eingesetzt oder liegt womöglich ein Behandlungsfehler vor? Dagegen steht das Bestreben der anthroposophischen Medizin, die Krankheit immer auch in den Schicksalsbegriff einzubetten – zunächst natürlich in das Schicksal der ­betroffenen Patienten. Die Krankheit hat für die Betroffenen eine Bedeutung, im Moment des aktuellen Krank­seins, aber auch darüber ­hinaus, denn sie wird seine Zukunft beeinflussen. Dazu gilt es aber auch, die Verflechtungen zwischen dem Schicksal des Arztes, der Ärztin und den Patienten in den Blick zu nehmen. Die Art und Weise, wie aus ärztlicher Sicht die Krankheit bewertet wird, hat eine wichtige ­Bedeutung für die Patienten. In diesem Verständnis ist der Verantwortungsbegriff oder der Schicksalsbegriff hochwertiger als das Bemühen, sich an einer vorgegebenen Leitlinie zu orientieren. Dabei trägt jeder Arzt die Verantwortung, sich ständig weiterzubilden, damit er den aktuellen Stand des medizinischen Wissens für sein Fachgebiet überblickt. Die Art und ­Weise, wie dieses Wissen in die Behandlung mit einfließt, obliegt dem Verantwortungsbewusstsein des Arztes und hat erhebliche, auch schicksalsprägende Folgen für die Zukunft von Arzt und Patient.

Ulrich Meier | Wie würden Sie beschreiben, worin das Spezifische der Verantwortung liegt, die so schwer zu finden oder zu ergreifen ist?

Dr. Johannes Klemm | Ich möchte noch etwas zu den Rahmenbedingungen sagen: Gerade habe ich wieder eine Patientengeschichte vor mir, bei der ich erstaunt bin, wie das Engagement der behandelnden Ärzte unmittelbare Folgen auf den Krankheitsverlauf der Patientin hatte und zunächst zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes führte. Ich frage mich in solchen Fällen zum einen als Abteilungs­leiter, aber immer auch als Arzt: Wie kann es sein, dass die Arbeitsfülle und die Dokumentationspflichten so überhandnehmen, dass die eigentliche Patientenwahrnehmung und Behandlung nicht mehr mit dem erforderlichen Engagement erfolgen können?
 
Ulrich Meier | Was könnte helfen?

Dr. Johannes Klemm | Ein wertschätzender Umgang mit den im Gesundheitswesen arbeitenden Mitarbeitern, der jedem einzelnen genügend Zeit zur Selbstachtsamkeit und Weiterentwicklung ermöglicht. Der aktuelle Krankenstand der Pflege, der im Bereich von 20 Prozent liegt, ist Ausdruck einer großen Erschöpfung. Ich bin froh, wenn noch Zeit da ist, in der wir unseren Patienten homöopathische Medikamente zur Unterstützung anbieten können. Insofern bin ich sehr gespannt und eigentlich optimistisch, wie sich das Gesundheitswesen in den nächsten Jahren weiterentwickelt. Ich glaube, dass das Gesundheitssystem sich zu einem neuen Gesundheitswesen entwickeln muss, damit wir wieder heilen können.

Ulrich Meier | Was bedeutet die Schicksalsfrage konkret für Sie als Arzt? Wie lebt es sich damit, wenn Sie sich in Ihrem Arbeits- und ­Lebensbereich in der Geburtshilfe verantwortlich machen für die Art, wie Sie in dem Schicksal Ihrer Patientinnen und Patienten eine so entscheidende Rolle haben?

Dr. Johannes Klemm | Das Besondere der Geburtshilfe ist, dass wir mit zweierlei zu tun haben: Wir haben die Mutter, die wir begleiten, und wir haben das Kind, für das wir auch verantwortlich sind. Diese feine Verflechtung zwischen dem Schicksal von Mutter und Kind gilt es immer im Blick zu haben und wirksam zu machen. Weiter haben wir als Hebamme und als Geburtshelfer die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich beide Schicksale unter der Geburt entfalten können, ohne dass es zu Traumata oder irreversiblen Schäden unter der Geburt kommt.

Ulrich Meier | Was würden Sie sagen: Welche Empfindungen haben Sie in dem Augenblick in Bezug auf die Schicksale von Mutter und Kind und Ihre Verantwortung?

Dr. Johannes Klemm | Die Begleitung einer Geburt ist eine besonders schöne, aber auch gewaltige Verantwortung. Während der Geburt zieht das Seelisch-Geistige des Kindes mit dem ersten Atemzug in die während der Schwangerschaft gewachsenen leiblichen Hüllen ein und verbindet sich im Optimalfall in einer harmonischen Art und Weise.

Ulrich Meier | Ich stehe ja beruflich oft auf der anderen Seite des Lebens und war gerade wieder Zeuge, wie die Mutter eines Gemeindemitglieds vom Krankenhaus, in dem sie in der Nacht zuvor verstorben war, zur Aufbahrung ins Haus getragen wurde. Dieser Moment, in dem die Bestatterin den Sargdeckel öffnete und der Blick auf den Leichnam frei wurde, ist von Empfindungen begleitet, die ich mit den Erinnerungen an die Geburten meiner Söhne vergleichen kann. Man merkt: So wie dieser Mensch einmal zur Welt kam, so ist er jetzt gegangen, aber im Anblick des Leichnams ist immer noch etwas vom Schicksal dieser alt gewordenen Frau zu erleben, die ihren zarten Körper als Hülle zurückgelassen hat. Das ist für mich auch immer ein Moment, in dem ich merke: Hier geht jetzt ein besonderer Lufthauch von Schicksal durch das Zimmer, für den ich mitverantwortlich bin.

Dr. Johannes Klemm | Ich hatte während meiner Ausbildung in der Geburtshilfe einen Oberarzt, der mich in meinen ersten vier Wochen immer gefragt hat, ob ich merke, aus welcher Ecke des Raumes das Seelisch-Geistige des Kindes hereintritt. Diese Frage beschäftigt mich bis heute. Manchmal habe ich das Gefühl es zumindest erahnen zu können. Ich kenne aber auch den umgekehrten Prozess, der sich im Sterben beim letzten Atemzug ereignet. Es ist dieser sehr kurze Moment, in dem man gar nicht mehr sicher beantworten kann, ob der Sterbende noch lebt oder schon gegangen ist, so gewaltig ist das Erleben des Seelisch-Geistigen, welches bei dem Schwellenübertritt den Raum erfüllt.

Ulrich Meier | In Bezug auf die Verantwortung habe ich das Gefühl: Wenn ich am Sarg stehe oder auch am Krankenbett, am Sterbebett, dann erlebe ich zuerst eine Art Demut: Was kannst du angesichts der Majestät dieser Vorgänge noch an Verantwortung übernehmen? Aber es gibt auch das Empfinden: Wie kannst du in dieser einzigartigen Situation – zunächst mit den Angehörigen, aber im Gebet und Sakrament natürlich auch mit den Verstorbenen – verantwortlich reagieren mit dem, was du als Priester an Erfahrung und an Gelerntem in dir trägst?

Dr. Johannes Klemm | Als dem Göttlichen gegenüber offener Arzt oder Priester kann man sich in aller Demut darauf verlassen, dass in dieser Situation nicht die Einzelperson Meier oder Klemm agiert, sondern dass es der Christus in uns ist, der durch uns hindurch agieren kann. Das führt zu einer ganz besonderen Demut und Bescheidenheit, aber auch Entlastung. Wenn etwas misslingt, ist die Last oder die Schuld in dem Sinne immer auch eine andere, weil man sie nicht allein tragen muss.

Ulrich Meier | Es ist immer beides: Ich spüre die Ohnmacht, diesen sehr kleinen Umfang dessen, was ich gestalten kann. Dann erst kommt die andere Dimension, für die man sich sensibilisieren kann: Zu dem Wenigen, was wir Menschen als Schicksalsdiener tun können, gehört auf der anderen Seite der Blick darauf, wie viel es ausmacht, dass wir Geistig-Wesenhaftes für wirksam halten, das in dieser Situation mitträgt und mitverantwortet.

Dr. Johannes Klemm | Ich glaube, dass es auch eine Art des Hinzubittens ist, die geübt sein will. Wenn man noch nie Geige gespielt hat, kann man sich nicht einfach hinstellen und sagen: Jetzt lege ich mal los! Es ist vielmehr ein Prozess, den man als anthroposophischer Arzt üben kann und muss, der Bescheidenheit voraussetzt. Was wir in der Anthroposophie vielleicht noch stärker in den Vordergrund stellen sollten, ist das Element der Nebenübungen – Liebe, Bescheidenheit, die eigene Kleinheit zu akzeptieren, und trotzdem bereit zu sein, für die nötige Durchlässigkeit zu sorgen, damit sich Schicksal ereignen kann.

Ulrich Meier | Das finde ich gut, dass Sie das Geigenspiel erwähnen. Dabei geht es neben dem Üben ja vor allem darum, sich präsent zu machen in diesem Augenblick – wie eine Geigerin oder ein Geiger im Konzert. Gibt es etwas, das Sie gern zum Schluss noch hinzufügen möchten?

Dr. Johannes Klemm | Ja, ein zukünftiges Gesundheitswesen braucht weniger Fehler- und Qua­litätsmanagement, sondern eine neue Sorgfaltskultur. Für mich beinhaltet dies, dass wir das, was wir tun, mit aufrichtigem Herzen und genügend geistiger Erleuchtung tun, damit wir im Sinne des Schicksals Heilung ermöglichen können.

Ulrich Meier | In dem Wort Sorgfalt steckt ja die Sorge, und die hat damit zu tun, dass wir uns seelisch kümmern, dass wir nicht aufhören, uns in einen Bereich hineinzuwagen, den wir nicht überschauen, und Sorge dafür tragen, dass sich in denen, die wir begleiten, menschliche Möglichkeiten, menschliches Potential entfalten kann. Sorge ist zwar ein altes Wort und wird oft ziemlich melancholisch gedeutet, aber eigentlich geht es dabei um eine Art von Herzenswachheit.

Dr. Johannes Klemm | Ja, ein Gesundheits­wesen, welches eine Sorgfalts-Herzenskultur ent­wickelt, wie wir es in dem Grundsteinspruch von Rudolph Steiner für die Anthroposophische Gesellschaft haben:

»… Erwärme / Unsere Herzen;
Erleuchte / Unsere Häupter;
Dass gut werde,
Was wir aus Herzen / Gründen,
Aus Häuptern
Zielvoll führen wollen.«

Das ist für mich Sorgfaltskultur.

Ulrich Meier | Vielen Dank. Das empfinde ich als ein sehr schönes Schlusswort.