Das Projekt MedienFasten

AutorIn: Ulrich Meier im Gespräch mit Silke Schwarz

Ulrich Meier | Sie haben die Initiative »MedienFasten« mit ins Leben gerufen. Können Sie kurz darstellen, wie sie entstanden ist?

Silke Schwarz | Der Anfang war, dass David Martin und ich an der Uni Witten/Herdecke ­interdisziplinäre Treffen mit Expertinnen und Ex­perten zu der Frage gestartet haben: Wie muss sich die Zukunft der Kindheit gestalten, damit Kinder und Jugendliche gesund und glücklich groß werden? Bei diesen Treffen hat sich schnell gezeigt, dass es der Bereich der di­gitalen Bildschirm­medien ist, wo wir eine Ge­neration von Eltern haben, die selber noch mit ­wenig ­Medien groß geworden ist. Auch die Generation derer, die jetzt ­Eltern werden, hat wenig Erfahrung im Umgang mit den Gefahren, die von der digitalen Welt für die Entwicklung von ­Kindern ausgehen. Von der wissenschaftlichen Seite her gibt es relativ viele Publikationen, die deutlich darauf hinweisen, dass der ungeregelte Umgang mit Medien in Bezug auf die Zeit und die Qua­lität der Inhalte ein großes ­Gefahrenpotenzial birgt und dass relativ wenig Bewusstsein in ­unserer Gesellschaft vorhanden ist, dass Kinder auf diesem Gebiet unsere Be­gleitung brauchen. Bei einem der ersten Treffen wurde der Entschluss gefasst: Wir wollen ganz konkret schauen, was man in dieser Richtung an Angeboten machen kann. Daraus sind die Forschungsprojekte von MedienFasten entstanden: Wir brauchen in den Familien, aber genauso auch für Erwach­sene Zeiten, in denen ein besonders hohes Me­dienbewusstsein gepflegt wird, wo man quasi innehält und sich fragt: Wie ist eigentlich mein Alltag im Hinblick auf die digitalen Me­dien und was wünsche ich mir? Wie sollte es optimalerweise sein?

Ulrich Meier | Auf der Website www.medien­fasten.org findet man eine informative und b­e­nutzer­freund­liche Darstellung von Projekten, die aus diesen Überlegungen heraus gestartet wurden. Können Sie davon etwas erzählen?

Silke Schwarz | MedienFasten haben wir 2019 in Koope­ration mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. als ein erstes Forschungsprojekt entwickelt. Parallel zur christ­­lichen Fas­ten­zeit haben wir 1.500 Medienfasten-Sets über die Kin­der- und Jugendärzte an Familien verteilt. Das Medienfasten-Set – das kann man sich auch auf der Website anschauen – beinhaltet Fragebögen für vorher und nachher, ein Informationsblatt vom Berufsverband der Kinder- und Jugend­ärzte sowie von der Universität Witten-Herdecke als Herzstück den MedienFasten-­Kale­nder selber. Die Befragung beinhaltete, dass sowohl die Eltern ihren Medienkonsum kritisch angeschaut haben, aber auch die Kinder. Sie konnten mit Hilfe der Eltern oder auch allein kindgerecht ­angepasste Fragebögen ausfüllen. Das Projekt zielte darauf, dass die Familien 44 Tage lang achtsam mit digitalen Medien umgegangen sind und vorher und nachher geschaut haben: Was soll sich bei uns in der Familie ändern? Und hinterher zu schauen: was ändert sich auch wirklich? Kann MedienFasten uns unterstützen? Der Kalender, den wir vor allem für Familien kreiert haben, ist wie ein ­Adventskalender gestaltet, d. h. er hat ein schönes Cover und 44 Tür­chen, sodass die Familie durch diese Fastenzeit hindurch jeden Tag ­morgens ein Türchen öffnen kann. Man hat in diesen Türchen Anregungen im Themenbereich Spielen, Erziehung, Ernährung, Bewegung – also ­allerlei, sodass man nicht in einem ganz luftleeren Raum steht. Wir dach­ten, der Kalender sei etwas für Grundschul­kin­der, für Kinder darüber wahrscheinlich nicht. Wir wurden jedoch eines Besseren belehrt, weil auch die Größeren durchaus nochmal ganz spielerisch werden konnten und sich am Kalender gefreut haben. Die Familien haben nach der Medienfasten-Zeit gesagt: Wir haben insgesamt signifikant weniger Bildschirmmedien genutzt in dieser Zeit, und zwar Eltern wie auch Kinder. Die Mahlzeiten sind bildschirmfrei geblieben, auch die Zeit morgens vor dem Frühstück. Das ist eine Zeit, die uns sehr am Herzen lag, weil wir von Lehrerinnen und Lehrern Meldungen hatten, die gesagt haben: Wir können es morgens an den Kindern ablesen, ob sie zu Hause schon Zeit am Bildschirm verbracht haben oder nicht.

Ulrich Meier | Ich wüsste gern noch von ein paar konkreteren Rückmeldungen. Können Sie davon erzählen, was die Menschen gesagt haben?

Silke Schwarz | Zum Beispiel haben wir nach der Motiva­tion in den Familien ge­fragt: Warum habt Ihr an der Aktion mit dem Medienfasten teilgenommen? Es war sehr interessant, dass die Eltern gesagt haben: Wir möchten gern ein gutes Vorbild für unsere Kinder sein, weil wir sehen, dass die zu viel an den Screens sind, dass sie ­gefährdet sind. Wir wollen als Familie zeigen, wie es richtig geht. Die Kinder haben wir auch gefragt: Warum macht ihr das? Und die Kinder sagten: Unsere Eltern schauen zu viel Medien! Wir glauben, dass es ihnen guttut, wenn sie ­weniger Zeit am Bildschirm sind. Das war z. B. etwas ganz Berührendes: Es gab in den ­Familien eine ge­genseitige Wahrnehmung dafür, wo die jeweils ­andere Generation zu viel Medien konsumiert, und das Anliegen, durch den eigenen Verzicht, durch das eigene Bewusstsein dem anderen mit zu helfen.

Ulrich Meier | Ich finde es interessant, dass Sie sich mit dem Projekt an der christlichen Fastenzeit orien­tiert haben. Hat das für die Teilnehmer dieser Aktion auch eine Rolle gespielt?

Silke Schwarz | Wir haben uns vorher Gedanken über die Länge der Zeit gemacht, über welche die Aktion gehen soll. Aus dem anthroposophischen Kontext heraus haben wir uns gesagt, dass es mindestens vier Wochen sein sollen, damit es in den Familien auch zu Gewohnheits­änderungen führt. In der Bevölkerung gibt es ein hohes Bewusstsein, dass die Fastenzeit dafür geeignet ist, innezuhalten und zu fragen: Wo kann ich einen Reinigungsprozess und eine Neuausrichtung finden? Die Familien haben zurückgemeldet: Ja, das ist eine gute Zeit, es ist ­etwas Gutes zur Idee des Fastens neu hinzu­gekommen. Viele haben aber auch gesagt: Es ist uns zu lang; wenn wir es noch einmal machen, würden wir es gern kürzer machen. Wir hatten nämlich auch gefragt: Wenn ihr noch einmal mitmachen würdet, im Sinne eines Fresh-Ups, welche Dauer würdet ihr euch wünschen? Da kam relativ ­häufig der Wunsch, dass es Ein- oder Zwei-­Wochen-Versionen gibt, mit denen man z. B. im Urlaub das ­Thema nochmals als Bewusstseinsmoment ergreifen kann.
Dass die Fastenzeit sich für solche Projekte anbietet, haben wir auch bemerkt, als wir in Ägypten auf der Sekem-Farm waren. Dort wurden wir nach einem ­Projekt ­MedienFasten im Ramadan gefragt, weil die ­Verantwortlichen dort bemerkt haben, dass die Kinder in der Fastenzeit exorbitant viel an den Medien sind und dass wegen der starken reli­giösen Bindung die Kinder oft auch schon ­etwas fasten sollen. Körperliches Fasten kann für die Kinder wegen der Hitze jedoch sehr ungesund sein. Spätestens im nächsten Jahr gibt es wohl auch ein Pilotprojekt im Ramadan. Aber es muss nicht an eine religiöse Fastenzeit gekoppelt sein. An das MedienFasten haben sich auch andere Projektgruppen angegliedert. Zum Beispiel haben die Studierenden der Universität Witten/Herdecke gesagt: Wir wollen auch ­Medienfasten machen. Wir haben sogar einen Kurs über mehrere Semester gehabt, dessen Teilnehmende sagten: Wir können nicht 44 Tage am Stück die digitalen Medien weg­lassen, wir müssen sie ja auch für unser Stu­dium nutzen. Aber es ist möglich, dass wir z. B. vier Mal eine Woche verab­reden, in der wir unser Medienbewusstsein schärfen – dass wir nicht so viel an Social Media hängen, dass wir unsere Apps entmisten, dass wir uns eine klare Struktur geben. Sie haben dann begonnen, selber entsprechende Kalenderentwürfe zu machen. Das haben wir so weit fortgeführt, dass es konkretes Material oder eine Studie dazu geben könnte.

Ulrich Meier | Ich habe auf Ihrer Website ge­sehen, dass Sie auch eine Projektrichtung mit Organisationen planen. Das interessiert mich, weil ja in ­Firmen und in beruflichen Zusammenhängen die dauernde Erreichbarkeit zu einem Stress­faktor geworden ist.

Silke Schwarz | Das ist ein absoluter Stress­faktor! Aber wir haben zurzeit keine Firma, mit der wir das konkret angehen. Wir sind offen, wenn sich ein Unternehmen meldet und sagt: Wir möchten in unserer Firma ein Medien­fasten- oder Medienbewusstseinsprojekt durchführen. Wir entwickeln gerne die Grundideen mit: Wie könnte das Projekt aussehen? Welchen Hintergrund hätte das? Dann könnte man das gut umsetzen und beforschen.

Ulrich Meier | Es wäre gut, wenn sich Kooperationspartner fänden, denn ich halte das auch für einen sozialen Faktor, dass inzwischen nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei ­Erwachsenen sozialer Druck entstanden ist, Medien durchgängig zu nutzen. Man könnte die Schwierigkeit des Abschaltens auch sozial erleichtern.

Silke Schwarz | Darauf gibt es viele Hinweise. Es ist erst einmal für viele schwer, nicht dauernd erreichbar zu sein, aber es ist möglich, und dann setzt auch schnell der Effekt ein, dass es dann besser geht. Weniger Druck, weniger Stress.

Ulrich Meier | Haben Sie Erkenntnisse darüber, ob das Medienfasten eine nachhaltige Wirkung im ­Sinne einer Selbstaktivierung hat? Man könnte sich ja sagen: Ich habe zwar jetzt nicht mehr den Kalender, aber schaffe es trotzdem, bewusster den Ausschaltknopf zu ­finden.

Silke Schwarz | Wir konnten leider nicht die­selben Fami­lien, die wir im Projekt begleitet ­haben, nochmals nach einem Jahr befragen, weil dies über die Kinder- und Jugendarztpraxen nicht möglich war. Aber ich kenne Schulen, die ein MedienFasten-Projekt gemacht haben. Gerade startet wieder eine Schule mit einer ganzen Klasse. Die Beteiligten der Projektschule sagten: Wenn man einmal für das Thema sensibilisiert ist und erlebt hat, wie gut es tut, dann macht man es öfter. Oft ist es ja so, dass man erst einmal in diesem Bereich irgendwie schläft, und es fehlt einem von außen ein Impuls, um zu ­sagen: Ach ja, das gibt es, da mache ich mit! Vor ein paar Jahren gab es diese Art Anstoß noch nicht, aber jetzt erleben wir, dass es kein Jahr gibt, ohne dass Nachfragen kommen, vor allem von Schulen, die sich wünschen, das Thema auf Eltern­abenden zu behandeln. Es strahlt ins Leben herein. Und wenn das einmal da ist und alle sind für­einander sensibilisiert, dann vergisst man das nicht mehr so schnell. Aus einer der Schulen, in der wir ein MedienFasten-­Projekt gemacht haben, kommen noch heute Kinder und sagen: Das war so schön mit dem Medienfasten, das sollten wir nochmal machen! Es hat ihnen auch gut ­gefallen, weil die Familien in der Zeit mehr draußen waren und mehr gemeinsam unternommen und das auch so ein bisschen zele­briert haben. Das kann man natürlich auch als Erwachsener, dass man in dieser Zeit nicht einfach eine Lücke hat, ­sondern dass man die freie Zeit für Beziehungen nutzt: zu Menschen, zur ­Natur und zur Spiritualität. Wir sind jetzt dabei, die Kalender zu verstetigen. Man kann sich als Kindergarten oder Schule, die so ein Projekt machen will, an uns wenden und diese Kalender bestellen. Wir möchten dazu noch mehr Begleitmaterialien erstellen, z. B. ein Begleitheft: Wie bereite ich am besten so eine Medienfasten-Zeit vor? Wie bereite ich sie nach? Wann setze ich mir nochmals ein Fresh-Up? Vielleicht auch für Schulen einen Online-Eltern­abend mit Material und Anregungen. Es findet sich aber auch schon jetzt viel auf unserer MedienFasten-Website.

Ulrich Meier | Vielen Dank für das anregende Gespräch und dafür, dass Sie und Ihre Mit­streite­rinnen und Mitstreiter für den be­wuss­te­ren Umgang mit Medien engagieren!