Evolutionstheorie und Schöpfungsbericht Warum ich mich als religiöser Mensch nicht zum Kreationismus bekennen muss

AutorIn: Hans-Bernd Neumann

Vor etwa 165 Jahren ist für die modernen Wissenschaften der Entwicklungsgedanke geboren worden.1 Zuerst bemerken verschiedene Forscher fast zeitgleich,2 dass sich das Leben auf der Erde anscheinend entwickelt und sich die­ser Entwicklungsstrom durch die Zeit weiter ­bewegt. Wenige Jahre später kommt durch die Entdeckung der allgemeinen Relativitätstheorie der Entwicklungsgedanke auch in der Physik an und vertreibt den Laplaceschen Dämon, nach dem das Universum im Prinzip gänzlich determiniert und berechenbar ist. Nicht allein das ­Leben befindet sich in einem Entwicklungsstrom, sondern auch der Kosmos im Sinne einer geschaffenen Welt. Schließlich ergreift der Evolu­tionsgedanke auch diejenigen, die sich der Frage stellen, was eigentlich »Bewusstsein«, insbesondere das menschliche Bewusstsein ist.3 Es scheint seitdem nur noch wenige wissenschaftliche ­Gebiete zu geben, die ohne die Evolutionshypothese fruchtbar zu denken sind.

In der religiösen Welt ist mit der jüdischen Geschichte der Gedanke einer sich in Entwicklung befindlichen Schöpfung nicht fremd. Hier kennen wir einerseits das Siebentagewerk Gottes vom Tohuwabohu bis zur Ruhe der Gottheit am siebten Tag. Andererseits scheint das Siebentagewerk eine Fortsetzung zu finden, die mit dem zweiten Schöpfungsbericht beginnt. Dieser fängt an mit der Erschaffung Adamahs (des Erdgeborenen), dem Paradiesgarten, der Geschlechtertrennung und dem Sündenfall, dessen Folge die Austreibung aus dem Paradies ist. Der zweite Schöpfungsbericht findet eigentlich im Wesent­lichen keinen Abschluss, sondern man ­könnte auch sagen der »Rest« der Bibel ist weiterhin zweiter Schöpfungsbericht. In diesem Sinne befinden wir uns im »achten Schöpfungstag«.4

Wie gehe ich nun  als modern denkender Mensch, der den Evolutionsgedanken kennt und ernst nimmt, mit dem Schöpfungsbericht der Bibel um? Muss ich mich entscheiden im Sinne eines Entweder-oder? Werde ich zum »Kreationisten«, der behauptet, dass Gott die Welt in genau sieben Tagen erschaffen hat, weil die Bibel stets die Wahrheit sagt und damit alle wissenschaftlichen Evolutionshypothesen zu verwerfen sind? Oder muss ich die Aussagen der Bibel fallenlassen, weil ich ein modern ­denkender und forschender Zeitgenosse bin? Als Kreationist jedenfalls, könnte ich, wenn
ich die Gültigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie leugnen würde, kein Smartphone mehr benutzen, denn dieses kann nicht funktionieren, wenn es keine allgemeine Relativitätstheorie geben darf.5 Ein Lösung wäre, zu behaupten, dass die Bibel nur metaphorisch zu deuten sei, also nicht wirklich im Sinne der Naturwissenschaft wahr ist.

Was ist das Ziel des Schöpfungsberichtes? – Die Genesis sagt uns: »Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis!« Dies ist hier das Hauptziel der Gottheit: Der Mensch als Gleichnis Gottes. Alles zuvor Geschaffene scheint Hinführung zum Menschen zu sein, und nach der Schöpfung des Menschen kommt die Bewertung: »Gott sah alles, was er gemacht hatte und siehe da, es war sehr gut.« Die ganze Schöpfung gipfelnd im Menschen war sehr gut.
Schauen wir uns die Schaffung des Menschen aus naturwissenschaftlicher Sicht an, wie sie heute tagtäglich über 200.000 mal auf der Welt geschieht. Vor der Konzeption eines Menschen ist schon eine Welt vorhanden: eine unbefruchtete Eizelle, die hauptsächlich aus Wasser besteht. Die Umgebung dieser Eizelle ist dunkel und ziemlich genau 37º warm.7 Man könnte sagen vor der Schöpfung eines neuen Menschen gibt es eine dunkle und warme Wasserwelt. »Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser« – manche übersetzen auch »Und der Atem, der Geist Gottes brütete über dem Wasser«.8 Nach dem Eisprung und vor der Konzeption haben wir Wärme, Wasserwelt und die weiblich-­mütterliche »Umgebung«.
Direkt mit der Befruchtung der Eizelle verwandelt sich sofort der gesamte Umkreis. We­nige Augenblicke, nachdem ein Spermium die ­Eimembran durchdrungen hat, verändert sich nicht nur die Eihülle, sondern – heutzutage chemisch, analytisch nachweisbar – der gesamte Hormonhaushalt der Frau, die jetzt zur Mutter wird. Viele Spermien umkleiden die befruchtete Eizelle, und eine solche sieht unter dem Mikroskop wie eine strahlende Sonne aus. Durch die Befruchtung verändert sich auf der hormonellen Ebene die Um-Welt vollständig. Es ist »Licht« ­geworden in dem Sinne, dass wir heutzutage wenige Augenblicke nach der Konzeption die Schwangerschaft chemisch über die Botenstoffe nachweisen können. – Das ist der »erste Schöpfungstag« auf dem Weg zum Menschen!
Die befruchtet Eizelle befindet sich jetzt irgendwo zwischen den Eierstöcken, dem Eileiter und der Gebärmutter. Die Mutterzelle fängt an, sich zu teilen. Nach wenigen Tagen bildet sich der »Zellhaufen« um zu einer »Blastozyste«. Es entsteht ein wässriger Innenraum. Die sich weiterhin teilenden Zellen bilden in dieser Wasserwelt ein »Oben« und ein »Unten«, getrennt durch ein Mittellinie. Es gibt ein Wasser oberhalb und ein Wasser unterhalb: »Gewölb werde inmitten der Wasser und sei Scheide von Wasser und Wasser!« – »Zweiter Schöpfungstag«.
In dieser Phase, etwa sechs Tage nach der ­Befruchtung, nistet sich diese Blastula in die Gebärmutter ein, was ein aktives von der Blastozyste gesteuertes Geschehen ist. Die Zell­schichten des werdenden Menschen sind gegliedert in drei Häutchen: Zwischen dem oberen Häutchen, dem Ektoderm, und dem unteren ­Endoderm entsteht das Mesoderm. Man könnte sagen, aus dieser Mitte heraus wird der menschlich gestaltet Embryo werden. Embryologisch be­obachtet man »Landbildung«. – »Dritter Schöp­fungstag«.
Es ist erstaunlich, wie genau sich die embryo­nale Entwicklung des Menschen der Bildsprache der Genesis folgend gliedert. Die Sinnesorgane entstehen – »vierter Tag«. Die Anlagen der Lunge entstehen – »fünfter Tag«, und der Mensch ist schon in seiner Gestalt sichtbar – »sechster Tag«. Eigentlich ist der neue Mensch im Mutterleib von seiner Organbildung her gesehen, schon früh im Verlauf der Schwangerschaft »fertig«.
Er wächst noch und verbleibt den »siebten Tag« ruhend im Mutterleib.

»Lasset uns Menschen machen« ist das Ziel der ersten Schöpfungsgeschichte. Der Weg dorthin ist stark gegliedert. Jedem Tag der sieben Tage kann ich ein Motiv zuschreiben. Die embryologische Entwicklung des Menschenkeimes ist ebenfalls gegliedert. Will ich der Gliederung des Embryos Motive zuschreiben, so sind sie den Gesten nach dem Schöpfungsbericht sehr ähnlich.
Was bedeutet diese Einsicht für mich? Als moderner Mensch mit der Erkenntnis, dass das Leben, der Kosmos und das Bewusstsein einem Evolutionsstrom folgen, kann ich problemlos auf das Siebentagewerk der Bibel schauen und staune, wie genau der Entwicklungsprozess des menschlichen Keimes in dieser Bildsprache wiedergegeben ist.
Woher die Menschen, die die Bibel dereinst niederschrieben, das wohl gewusst haben? Aber das ist eine andere Frage. Für mich ging es hier darum, den modernen Evolutionsgedanken der Wissenschaften mit der Bibel in ein Verhältnis zu setzen. Wenn ich auf die Gestensprache schaue, die die Bibel spricht, und sie mit der ­Embryologie vergleiche, habe ich nicht nur kein Problem, sondern komme ins Staunen, wie genau sich beide Anschauungen ergänzen und stützen.9 Der bekennende Kreationist ist mit dieser Analogie und dieser deutenden Über­tragung vermutlich nicht zufrieden. Er wird weiterhin mehr oder weniger dogmatisch behaupten, dass Gott in sechs Tagen vor etwa 7.000 Jahren den Kosmos und mit ihm den ­Menschen geschaffen hat. Für mich ist wichtig, dass ich mit dieser Auslegung eine Deutung des ­Textes finde, die mich nicht zwingt, mein naturwissenschaftliches Weltbild aufzugeben, sondern vielmehr dieses ergänzt und bejaht. Stellen der Bibel, bei denen anscheinend Naturgesetze gebrochen werden, sind für mich Schlüsselstellen und Aufforderung, die Gestensprache genau anzuschauen und zu suchen, wo ich diese Geste z.B. in meinem Seelenleben wiederfinde. Die Bibel schildert meines Erachtens gleichberechtigt nebeneinander irdisches, seelisches und geistiges Geschehen. Wenn Seelisches oder Geistiges als ein rein irdisches Geschehen gedeutet wird, dann ist Jesus wirklich auf dem Wasser gewandelt. Dann setzt er Naturgesetze außer Kraft, und ich lebe einen materialistischen Wunderglauben. Schaue ich aber auf die Geste, so finde ich Deutungen, die nicht verlangen, dass Naturgesetze gebrochen werden.

1  Als nämlich 1859 Charles Darwin sein Werk veröffentlichte: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung
der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein …

2  Charles Darwin (1809–1882); Pjotr Kropotkin (1842–1921); Ernst Haeckel (1834–1919).

3  Rudolf Steiner (1861–1925), Sri Aurobindo (1872–1950), Pierre Teilhard de Chardin (1881–1951), Jean Gebser (1905–1973), Ken Wilber (geb. 1949).

4  Thornton Wilder schrieb 1967 einen Roman gleichen Titels: The Day Eight.

5  Ein Smartphone funktioniert nur aufgrund von satellitengestützter Technologien. Satelliten lassen sich im Erdschwerefeld nur hinreichend genau positionieren, wenn bei den Bahnberechnungen allgemeine relativistische Korrekturen vorgenommen werden. Jeder Handynutzer »lebt« mit der allgemeinen Relativitätstheorie!

6  Genesis 1,26 nach der Übersetzung von Martin Buber und Stefan Rosenzweig.

7  Genau genommen erhöht sich die Körpertemperatur der Frau wenige Stunden vor dem Eisprung um fast 0,6º.

8  Gérad Klockenbring: Genesis-Mysterienmotive im Alten Testament, Stuttgart 2000.

9  Wer sich in die Thematik Embryologie und Genesis vertiefen möchte, sei auf das Buch von Kaspar Appenzeller verwiesen: Die Genesis im Lichte der menschlichen Embryonalentwicklung, Basel 1976.

 

Dr. Hans-Bernd Neumann, geboren 1964, ­Priester, Kassel