Thomas von Aquin nach 750 Jahren

AutorIn: Wolf-Ulrich Klünker

Thomas von Aquin ist im März 1274 verstorben. Er hat im Anschluss an Aristoteles und an die christlichen Grundlagen des Neuen Testaments, insbesondere des Johannes-Evan­geliums, die Voraussetzungen für ein neues Selbstverständnis des Menschen geschaffen. Für alle Erkenntnisgebiete begründete Thomas die Einheit von christlicher Spiritualität und wissenschaftlicher Forschung. Dabei entstand ein umfassender Ansatz, den Menschen im Sinne der Formulierung von Joseph Beuys »größer« zu denken: von der kosmologischen Dimension der Entwicklungsgemeinschaft mit dem Engel bis hin zu einem spirituellen Verständnis der körperlichen Substanz.
Was in der Anthroposophie Rudolf Steiners im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Versuch betrachtet werden kann, mit dem ­erkennenden Denken die Lebenswirklichkeit zu erschließen – dazu hat Thomas von Aquin 700 Jahre zuvor die erkenntnistheoretischen und spirituellen Grundlagen herausgearbeitet. Sie erscheinen uns heute, zumal in der lateinischen Sprache des 13. Jahrhunderts, ungeheuer abstrakt. Und es braucht eine starke Willenskraft und kontinuierliche Anstrengung, sich heute diese Grundlagen zu erarbeiten. Aber man kann nach einiger Zeit eine Empfindungs- und Lebenswirkung im Hintergrund dieses Denkens bemerken: eine Aufhellung der eigenen Existenz, eine individuelle Sensibilisierung für Lebensprozesse. Es wird spürbar, dass heute, ein Jahrhundert nach Neubegründung der Anthroposophie und nach dem Tod Rudolf ­Steiners, das Denken des Thomas von Aquin zu einer Kraftverstärkung werden kann, im Denken wirklich die Lebensdimensionen zu erreichen. Denn darum geht es im 21. Jahrhundert: nicht mehr wie im 20. Jahrhundert das Unbewusste bewusst geistig zu erschließen, sondern durch die Erkenntnishaltung den Bereich des Lebens (und des Todes) zu erschließen. Von der existenziellen Bedeutung dieser Intention legen inzwischen auch die tagesaktuellen Probleme der menschlichen Existenz Zeugnis ab.


Ich-Psychologie

Geisteswissenschaftlich und wissenschaftshistorisch betrachtet war Thomas Begründer einer Psychologie der Individualität. Er hat als erster Forscher einen Ich-Begriff geprägt, auf der Grund­lage der Psychologie des Aristoteles und eines Aristoteles-Forschers des 5. Jahrhunderts, Themistios. Ich selbst konnte vor vielen Jahren die Schrift des Thomas De unitate intellectus (Über die Einheit des Geistes) zum ersten Mal ins Deutsche übersetzen, zusammen mit seiner Abhandlung De motu cordis (Über die Bewegung des Herzens). Was Thomas hier bietet, kann als Spitzenforschung seiner Zeit bezeichnet werden, deren (bisher viel zu wenig beachtetes) Ergebnis für die Entwicklung des Menschen epochal ist. »Das Ich ist aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzter intellectus.« Dieser Satz, der den ersten expliziten Ich-Begriff der Geistesgeschichte formuliert, klingt vordergründig wenig spektakulär; er zeigt aber seine wirkliche Bedeutung, wenn man ihn zusammen mit dem aristotelischen Prinzip anima forma corporis (die Seele als Formkraft des Leibes) betrachtet.
Rudolf Steiner konnte dann 1924 in seinem Heilpädagogischen Kurs die Lebens- und die Bewusstseinsseite des Denkens als leibliche und geistige Existenzvoraussetzung des Menschen beschreiben, allerdings ohne auf Thomas explizit Bezug zu nehmen. Das menschliche Ich musste von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert zunächst gedacht werden, damit es sich im 20. Jahrhundert mit Hilfe der Anthroposophie Rudolf Steiners wirklich entwickeln konnte. Auch in dieser konkreten Form bildet das Denken eine Voraussetzung des Lebens und der Wirklichkeit. Hier liegt ein wichtiger Ansatz für ein neues Wissenschaftsverständnis des 21. Jahrhunderts: zu begreifen, dass entscheidende Entwicklungsvoraussetzungen zunächst gedacht werden müssen, bevor sie Realität werden können – der Mensch wird zunehmend zu dem, als was er sich zu denken vermag. Eine wirkliche Spitzenwissenschaft des 21. Jahrhunderts hat auch die Aufgabe zu verdeutlichen, dass Erkenntnis nicht nur eine Deutung oder ein Verständnis der Wirklichkeit ist, sondern immer mehr auch ihre Grundlage.


Denken und nachtodliche Existenz

Der Lehrer und geistig-menschliche Freund des Thomas war Albert, der später »der Große« genannt wurde. Albertus Magnus hat, wie Thomas, ebenfalls etwa um 1270 eine Schrift mit dem selben Titel veröffentlicht: De unitate intellectus. Diese Schrift habe ich vor wenigen Jahren übersetzt und zusammen mit einem der entscheidenden Albertus-Forscher der Gegenwart, Henryk Anzulewicz herausgegeben. Albertus hat seinen Schüler Thomas überlebt und ihn gegen kirchliche und theologische Angriffe verteidigt. In der erwähnten Schrift wendet er sich wie Thomas in der Form damaliger Spitzenwissenschaft gegen eine nicht-individuelle Deutung der Psychologie des Aristoteles.
Wichtig, aber wenig beachtet ist die Tatsache, dass die wissenschaftliche Psychologie in den drei Büchern Über die Seele des Aristoteles mit der Frage nach der Existenz der Seele nach dem Tod beginnt. Damit war zugleich auch die Erkenntnis- und Entwicklungsgrundlage für die Individualität des Ich aufgerufen. Wenn die menschliche Seele, die anima intellectiva bzw. der intellectus, nicht als individuelles Geistwesen nach dem Tod weiterexistiert, kann das menschliche Ich nicht wirklich individuell sein. Dann wäre der individuelle menschliche Leib das Individuationsprinzip des Menschen, und wenn der Leib stirbt, würden die denkende Seele (anima intellectiva oder intellectus), die fühlende Seele (anima sensitiva) und die Lebensseele (anima vegetativa) in den allgemeinen kosmischen Geist übergehen. Die Individualität würde sich also mit dem Tod auflösen. Wissenschaftsgeschichtlich außerordentlich bedeutsam ist, dass damit die Grundlage des Ich-Verständnisses in der Frage nach der nachtodlichen Existenz besteht – eine Perspektive, die für etwa 2.500 Jahre Psychologiegeschichte Geltung besaß, aber vom Ende des 19. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart »vergessen« wurde bzw. wissenschaftlich nicht mehr ernst genommen wird.
Thomas wie Albertus haben in den erwähnten gleichnamigen Schriften die tragende Bedeutung der arabischen Philosophie (etwa bei Averroes und bei Avicenna) herausgearbeitet, sich aber gegen die Konsequenz aus diesen Ansätzen gewendet, die Individualität der nachtod­lichen Existenz in Frage zu stellen. Thomas und Albertus konnten zeigen, dass das ­unsterbliche intellectus-Ich Lebensgrundlage des Leibes aus­bildet (nicht umgekehrt!) So hat Albertus beschrieben, dass der intellectus auf dreierlei Weise mit dem Menschen verbunden ist: als ­Lebensgrundlage, als Bewusstseinsgrundlage und als Grundlage menschlicher Spiritualität. Spiritualität ist Albertus (und auch Thomas) zufolge dann gegeben, wenn es gelingt, das ­Denken als Bewusstseinsgrundlage so zu vertiefen, dass im Denken die (zunächst unbewusste) Lebensgrundlage erreicht wird. Mit dieser Perspektive berührt man die Grenzen des Heilpädagogischen Kurses Rudolf Steiners und der Menschenkunde der Anthroposophie.


Christus und das Ich

Thomas und Albertus verband menschlich wie geistig eine intensive Beziehung. Man kann darin durchaus eine existenzielle Voraussetzung für die Empfindung von Ich-Realität sehen. Das 13. Jahrhundert hat, von Thomas und Albertus unbemerkt, eine weitere Spitze der Individual­psychologie hervorgebracht, allerdings auf künst­lerisch-ästhetischem Gebiet. Ebenfalls etwa um 1260 hat der sogenannte »Naumburger Meister«, der bisher menschlich nicht identifiziert werden konnte, die berühmten Figuren des Naumburger Doms geschaffen. Insbesondere in der Gestalt der Uta begegnet ein tief wirkender Ausdruck der Empfindung von menschlicher Individualität. Man könnte in einer Art imaginativ-historischer Fragestellung bedauern, dass diese drei Ansätze des Denkens und der Empfindung von Individualität sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts nicht verbinden konnten, dass der wissenschaftliche und der künstlerische Ausdruck nicht zusammenkamen. Metaphorisch, aber durchaus real gesprochen: Uta musste als Individualität in der ihr eigenen tragischen Ausstrahlung verbleiben, weil sie Thomas und Albertus nicht kannte. Und Thomas wie Albertus blieben in dem abstrakt-ätherischen Milieu der Wissenschaft unverstanden, weil das (weibliche) Empfindungselement der Uta noch fehlte.
Im Naumburger Dom muss die Schwelle des Westlettners durchschritten werden, um in den (geistigen) Umraum der Uta zu gelangen. Der Übergang wird, auf menschlicher Augenhöhe mit Johannes und Maria, von Christus am Kreuz ­gebildet. Wer hier durchgeht, betritt den Ich-Raum der Uta (im Verhältnis zu den anderen sog. Stifterfiguren). Man kann dieses architektonische Realbild höchster Bildhauerkunst als künstlerische Erlebnisform des Christus-Verständnisses des Thomas von Aquin und ­seines Freundes Albertus verstehen: Die Verbindung mit Christus bildet die Voraussetzung der Ich-Entwicklung. Sie wird möglich, wenn der Glaube als Willenskraft so ernst wird, dass sich in ihm Denken und Empfindung verbinden; in ­dieser Erfahrung kommt es zu einer Wirklichkeit begründenden Berührung von Christus und Ich. Zugleich zeigt sich die Wirklichkeit bis in Substanzprozesse hinein als Christus-getragen.


Mensch und Engel

Wollte man einen Unterschied in der menschlichen und wissenschaftlichen Grundhaltung des Thomas und des Albertus benennen, so könnte man darauf hinweisen, dass Albertus umfassend und detailreich arbeitete, während Thomas stärker in eine systematische und zukunftsfähige Konsequenz ging. Als für das 21. Jahrhundert wichtige Perspektive sei hier noch auf die Existenzgemeinschaft von Engel und Mensch geblickt, wie sie bei Thomas und Albertus veranlagt ist, von Thomas aber konsequenter in ihren Perspektiven ausgearbeitet wurde.
Der Mensch kann in seiner geistigen Entwicklung den Engel erreichen und in gewisser Hinsicht befreien. Interessanterweise untersucht Thomas die menschliche Selbsterkenntnis, um die Entwicklungsbeziehung von Engel und Mensch genauer zu bestimmen. Der Mensch ist nicht zur unmittelbaren Selbsterkenntnis fähig, wohl aber der Engel. Der Mensch gelangt nur durch die Erkenntnis der Dinge zur Selbsterkenntnis, indem er bemerkt, wie er die Welt erfährt und erkennt. Für den Engel sind Gegenstandserkenntnis und Selbsterkenntnis identisch. Der Engel wird das, was er erkennt; er ist die Bewusstseinsseite des Seins.
Der Mensch wird vom Raum gehalten, der Engel hält den Raum, bildet den Zusammenhang, den wir als Raum erleben. Wenn etwas räumlich, geistig, seelisch, körperlich zerfällt, dann kann diese Destruktion als Ausdruck ­davon gelten, dass der Engel den Zusammenhang nicht (mehr) hält oder halten kann. An seine Stelle hätte dann der Mensch in seiner Geistes- und Lebensentwicklung zu treten; er hätte gleichsam den Engel als Haltenden abzu­lösen. Es ist interessant, Auflösungsprozesse der Gegenwart auch unter dieser Perspektive zu betrachten.
Der Mensch wird in seiner Lebens- und Geistesentwicklung zu einer neuen Kooperation mit dem Engel aufgerufen: zu einer Geistselbstberührung in der Ich-Entwicklung. Die Erfahrungen, die für den Engel in der neuen Geschwisterlichkeit mit dem Menschen möglich werden können, würden den Engel und die ­dritte Hierarchie zu einem nächsten eigenen Entwicklungsschritt befreien. Gelingt dem menschlichen Ich eine solche neue Schwellen­existenz nicht, so werden der Engel und die ­dritte Hierarchie gleichsam in ihrer eigenen Vergangenheit fixiert.
Die Hierarchienlehre des Thomas führt in ihren Konsequenzen auch zu einer »humanen« Kosmologie, zu einem Blick in einen nicht menschenleeren und eiseskalten Kosmos. Thomas fragt, ob dem Planeten eine Seele zugeschrieben werden kann, und er entwirft eine Blickrichtung, die genuin wissenschaftlich und in keiner Weise astrologisch gemeint war: Die Seele des Planeten lebt nicht in der Materie des Planetenkörpers, sondern in seiner Bewegung und im Bewegungszusammenhang aller Planeten. Hier deutet sich eine Psychologie der Intention und der Bewegung an. Seelisch-geistige Existenz ist nicht nur die »Innerlichkeit« eines Organismus, sondern auch seine Bewegung, Entwicklung und Ausrichtung nach außen. Zur seelischen Existenz gehört, worauf ich bezogen bin. Und diese Beziehung und ihre Entwicklung zu vertiefen, wäre dann die Zukunft von Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung.

Thomas von Aquin hat am Ende seines ­Lebens, also vermutlich zu Beginn des Jahres 1274, eine zusammenfassende Schrift über die Engel und die übrigen hierarchischen Wesen angelegt und begonnen. Ich konnte diese Schrift (De substantiis separatis, Über die vom Leib getrennten Wesenheiten) ebenfalls vor vielen Jahren übersetzen und herausgeben. Sie musste Fragment bleiben. Thomas ist verstorben, bevor er sie fertigstellen konnte, und hat damit eine Art Vermächtnis hinterlassen. Wir können in ihr heute aus der historischen Distanz von 750 Jahren einen Vorschein der Geisteswissenschaft und ihrer Transformation ins 21. Jahrhundert erkennen: die Entwicklungsgemeinschaft von Engel und Mensch neu zu verstehen. Von hier aus könnte sich üb­rigens auch eine »humane« Perspektive auf das Tier ergeben – auf dessen Erwartung der Menschheitsstufe.

 

Prof. Dr. Dr. Wolf-Ulrich Klünker, Leiter der DELOS Forschungsstelle für Psychologie und der Turmalin-Stiftung, Professor für Erkenntnis­grundlagen der Anthroposophie an der Alanus Hochschule, www.delos-forschungsstelle.de